Normalität im Ausnahmezustand: Die jüdische Gemeinde in Rostock
Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Dörfer in Israel nehmen die Sorgen der jüdischen Gemeinden in Norddeutschland zu. Dennoch sind sie um Normalität bemüht.
Als der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, Yuriy Kadnykov, vergangenen Freitagabend das Brot bricht und Stück für Stück an seine Rostocker Gemeindemitglieder verteilt, ist es eigentlich wie immer am Schabbat: Der Saal der Jüdischen Gemeinde ist voll, der Tisch reich gedeckt und die Beleuchtung feierlich. Und doch ist alles anders. Es ist der erste Schabbat nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf den Staat Israel sechs Tage zuvor.
Normalerweise steht der Schabbat für Ruhe und Besinnung. Es ist der siebte Tag in der Woche im jüdischen Kalender, der Ruhetag. Doch allen Gemeindemitgliedern gehen die Nachrichten und Bilder, die vom Krieg in Israel überall zu sehen sind, sehr nahe. Einer von ihnen ist Jörg Zink. Er hat selbst eine Zeit lang in Israel gelebt. Ihn belaste die Situation auch körperlich: Er habe zwei, drei Tage lang am ganzen Leib gezittert. "Ich habe Essen gemacht und danach musste ich es wegkippen, weil mein Magen nichts aufgenommen hat", erzählt er uns. Auch Gianna Marcuk, die im Gemeindezentrum arbeitet, ist entsetzt: "Alle sind bestürzt, empört, traurig, besorgt. Wir fühlen uns dem Land Israel sehr, sehr nah."
Große Solidarität - angespannte Stimmung
Die Solidarität mit Israel und der jüdischen Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern ist im Moment groß. Am Vortag sind rund 300 Menschen auf dem Rostocker Neuen Markt zu einer Kundgebung zusammengekommen. Ein Polizeiaufgebot schützt die Solidaritäts-Demonstration von allen Seiten. Denn wie vielerorts in Deutschland ist die Stimmung auch hier angespannt. Zweimal nähern sich einzelne Störer der Versammlung, rufen Parolen wie "Free Palestine" oder "Israel - Kindermörder". Die Polizisten greifen direkt ein und führen die Störer ab.
Auch wenn es bei der Demonstration überwiegend friedlich bleibt, haben einige Mitglieder der Gemeinde Sorge vor einem ansteigenden Antisemitismus in Mecklenburg-Vorpommern. So auch Janina Kirchner, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Schwerin: "Wir sehen den Rechtsruck in vielen Demokratien des Westens. Und wir sehen wie der Krieg im Nahen Osten auf mehreren Ebenen den Antisemitismus in Europa und Deutschland befeuert", sagt sie. Die Hebräisch-Lehrerin Svetlana K. traut sich an diesem Freitag nicht, zur Schabbat-Feier in die Synagoge zu gehen. Schließlich hat die Hamas an diesem Freitag weltweit zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aufgerufen, zu einem "Tag des Zorns". Das Bundeskriminalamt rechnet mit einer Protestwelle gegen jüdische Einrichtungen in Deutschland.
In Rostock war man bislang Stolz auf seine "offene Synagoge". Während in anderen Städten die Gotteshäuser rund um die Uhr bewacht werden, suchte man vor der Rostocker Gemeinde vergeblich Polizei und Absperrungen. Das ist nun erstmal vorbei. Während sich diesen Freitag die Gläubigen drinnen mit der Grußformel "Schabbat Shalom!" einen friedvollen Abend wünschten, standen draußen zwei Polizeiwagen in Bereitschaft. Den Malkurs für Kinder am Sonntag hat die Synagoge erstmal abgesagt. Die Kunstlehrerin hat Angst um ihre jungen Schüler.
Angst vor Stimmungsumschwung
Am Montag haben Unbekannte eine Fensterscheibe des Gebäudes der Jüdischen Gemeinde beschmiert. Polizeibeamte hatten das am Vormittag auf einer Streife entdeckt. Der Schriftzug war nicht zuzuordnen, alles war am Abend wieder entfernt. In der Nacht zum Dienstag meldete die Polizei, dass unbekannte Täter die Außenfassade eines Wohnhauses mit einem großflächigen Graffiti beschmiert hatten. Dieser Schriftzug habe eindeutig einen politischen Hintergrund, der im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt stünde. Ob beide Schmierereien aber einen antisemitischen Hintergrund hätten, war bei Redaktionsschluss noch offen.
Die größte Angst einiger Gemeindemitglieder in Rostock ist, dass die Stimmung in der Bevölkerung umschwenkt, sollte der Krieg im Nahen Osten eskalieren und lange andauern. Dann, befürchten einige, wird die Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung auch hier schnell wieder abnehmen.