Nach Anschlag in Moskau: Kaum Erkenntnisse über ISPK im Norden
Weder über Personen, Strukturen noch über Aktivitäten des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISPK), der sich zum Terroranschlag in Moskau bekannt hat, gibt es nach Angaben der norddeutschen Behörden detaillierte Informationen. Doch eine Entwarnung ist das laut Experten nicht.
Als Ableger des Islamischen Staates vor zehn Jahren in den Bergen Afghanistans gegründet, ist der ISPK heute international aktiv. Weltweit bekannt wurde er mit dem Moskauer Anschlag am vergangenen Wochenende, bei dem mehr als 140 Menschen ums Leben kamen.
Doch nicht nur für die Tat in der "Crocus City Hall" in Moskau soll die Terrorvereinigung verantwortlich sein, auch den Anschlag auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien zu Weihnachten vergangenen Jahres soll sie geplant haben.
Schon seit Jahren gibt es in Deutschland viele Festnahmen von Anhängern der Terrorgruppe. Für Hans-Jakob Schindler, den Terrorismusexperten von der NGO "Counter Extremism Project" ist das ein Warnsignal. Denn schließlich zeige es, dass der ISPK seit Jahren versucht, "hier in Deutschland Anschläge zu verüben".
Anhänger des ISPK wurden in Nordrhein-Westfalen gefasst, in Thüringen, in Bayern, in Berlin. Laut Behörden leben mehr als 100 Anhänger dieser Terrorgruppe in Deutschland, davon 50 in NRW. Aber welche Rolle spielt die Terrororganisation in Norddeutschland? NDR Info hat bei den Sicherheitsbehörden von Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern nachgefragt - und präzise Antworten bekommen.
"Aktuell keine Strukturen des ISPK erkennbar"
Sie hätten "keine Erkenntnisse über ISPK-Strukturen", heißt es aus Hamburg. Das Landeskriminalamt Kiel schreibt, dass "keine in Schleswig-Holstein zu verortenden Sympathisanten des sogenannten ISPK bekannt" seien. Auch der Verfassungsschutz in Hannover teilt mit, dass "aktuell keine Strukturen des ISPK in Niedersachsen erkennbar" seien. Das dortige LKA will aus ermittlungstaktischen Gründen nichts zur Anzahl der ISPK-Anhänger in Niedersachsen sagen.
Und aus Mecklenburg-Vorpommern heißt es: "Grundsätzlich ist ein Teil der salafistischen Szene empfänglich für mögliche Gewaltaufrufe. Konkrete Erkenntnisse zu möglichen Anschlagsvorbereitungen des ISPK liegen hier derzeit jedoch ebenfalls nicht vor."
ISPK mit gezielter Anschlagsplanung in Deutschland
Diese Antworten könnten bedeuten, dass es vielleicht kaum oder keine Anhänger des ISPK in Norddeutschland gibt. Doch für Terrorismusexperten wie Schindler kann trotzdem keine Entwarnung gegeben werden. Denn aus den Ermittlungsverfahren der vergangenen Jahre sei bekannt, dass der ISPK auch diese Taktik verfolgt: Er werbe Anhänger im Ausland an und schicke sie nach Deutschland, "nicht um hier Strukturen aufzubauen, sondern mit dem einzigen Ziel, hier einen Anschlag zu verüben."
Mehrere Personen im Visier des Bremer Verfassungsschutzes
Darüber hinaus gibt es laut Verfassungsschutz Bremen eine aktive Szene, aus der sich die Terrorgruppe auch hier im Norden rekrutieren könnte: Islamisten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken im Nordkaukasus wie Tschetschenien und Dagestan. Der Verfassungsschutz Bremen hat eine zweistellige Personenzahl aus diesem Kreis im Blick.
Vor zwei Jahren gab es im kleinsten Bundesland auch eine Festnahme und eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Eine minderjährige Person aus Bremerhaven wollte damals im Auftrag der afghanischen ISPK-Zentrale eine lokale IS-Zelle gründen. In Internetforen rief sie zu Anschlägen auf.
"ISPK strebt komplexere Anschläge an"
Für den Experten Schindler ist es typisch für diese Gruppe, dass die Attentäter zu mehreren zuschlagen. Aus den Ermittlungen und Festnahmen der vergangenen Jahre habe man gelernt, dass der ISPK zunehmend versuche, "komplexere Anschläge mit mehreren Personen gegen zum Teil auch harte Ziele, Militäreinrichtungen, Regierungsgebäude zu verüben". All das erfordere "einen höheren Grad an Vorbereitung, damit natürlich auch eine höhere Notwendigkeit, mehr und länger und öfter zu kommunizieren".
Rege Kommunikation des IS hilft Ermittlungsbehörden
Für die Sicherheitsbehörden ist zumindest die rege Kommunikation untereinander und mit der ISPK-Zentrale in Afghanistan hilfreich. Denn so kommen sie den ISPK-Zellen immer mal wieder auf die Spur. Anschläge in Deutschland hätten laut Schindler allerdings vor allem Informationen ausländischer Geheimdienste verhindert. Auch weil die deutschen Dienste seit ihrem Rückzug aus Afghanistan und der Machtübernahme der Taliban kaum noch eigene Kenntnisse über die von dort aus operierenden Terrorgruppen hätten. Das gelte auch für die ISPK-Zentrale in Afghanistan.
"Es ist klar, dass Afghanistan nicht mehr die gleiche Priorität für die Sicherheitsbehörden hat wie bis August 2021", so Schindler. Das sei "einfach eine Frage des Budgets". In einem Land wie Deutschland, in dem die Sicherheitsbehörden "nicht unendlich viel Geld" zur Verfügung hätten, "kann man nicht alles gleich intensiv machen". Allerdings ist es aus seiner Sicht ein großer Fehler, deshalb Afghanistan zu vernachlässigen. Das sei doch aus der Geschichte bekannt: "Wer Afghanistan vernachlässigt, tut dies zum eigenen Schaden."