Milliarden-Schaden: Ermittler auf der Spur der Krankenkassen-Betrüger

Stand: 14.04.2025 15:15 Uhr

Durch Abrechnungsbetrug geht den Krankenkassen in Deutschland jedes Jahr ein Milliarden-Betrag verloren. So schätzen es Experten, denn das Dunkelfeld ist groß. Alle Krankenkassen haben Ermittler, die Betrügereien aufdecken sollen. Wie arbeiten sie? Ein Beispiel aus dem Norden.

von Anina Pommerenke und Marc-Oliver Rehrmann

Emil Penkov darf sich seit knapp einem Jahr Chef-Ermittler nennen. Der Jurist arbeitet aber nicht etwa bei der Kriminalpolizei, sondern bei einer Krankenkasse. Genauer gesagt: bei der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) mit Sitz in Hannover. Sein Auftrag lautet: Abrechnungsbetrug aufspüren und im Idealfall für die Zukunft verhindern.

"Das Problem ist sehr groß", sagt Penkov im Interview mit NDR Info. "Es betrifft sämtliche Bereiche: beispielsweise die Pflege, die Physiotherapie, Arztpraxen, Apotheken und Sanitätshäuser. Überall haben wir schwarze Schafe, die betrügen."

"Oft ist es wirklich Puzzlearbeit"

Chef-Ermittler Emil Penkov von der KKH steht in einem Gebäude und schaut in die Kamera. © NDR Info Foto: Anina Pommerenke
Chef-Ermittler Emil Penkov erlebt immer wieder neue Betrugsmaschen im Gesundheitswesen.

Für Penkov ist es eine sehr herausfordernde, aber abwechslungsreiche Arbeit. "Die Kriminellen lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen. Oft ist es wirklich Puzzlearbeit, wenn man versucht, das große Ganze in einem Fall zu sehen." Und manchmal sei es ein sehr langer Weg vom ersten Verdachtsmoment bis zum geklärten Fall.

Aktuell liegt bei ihm folgende Akte auf dem Tisch: Bei der Abrechnung von manueller Therapie in einer Physiotherapie-Praxis kann etwas nicht stimmen. Es sind so viele Behandlungen aufgeführt, dass das vorhandene Personal dafür ein Jahr lang rund um die Uhr hätte arbeiten müssen. "Das kann also nicht sein", sagt Penkov. "Da schauen wir dann genauer hin." Das heißt: Abrechnung und Umsätze der Praxis aus den zurückliegenden Jahren werden nun geprüft.

Hunderte Fälle im Jahr bei KKH

Die Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover. © dpa - picture alliance Foto: Silas Stein
Die Kaufmännische Krankenkasse in Hannover muss jedes Jahr Abrechnungsbetrug in Millionen-Höhe verzeichnen.

Penkov und sein Team decken bundesweit pro Jahr etwa 500 Fälle auf. Im Jahr 2024 sei dadurch der KKH ein Schaden in Höhe von insgesamt 5,5 Millionen Euro entstanden. "In der Regel schaffen wir es, von diesen gut fünf Millionen Euro etwa eine Million Euro zurückzuholen - mal etwas weniger, mal etwas mehr." Anders gesagt: Auf dem Großteil des finanziellen Schadens bleibt die Krankenkasse sitzen.

Experten: Dunkelfeld bei Betrügereien sehr hoch

Die Betrügereien im Gesundheitswesen richten einen enormen Schaden an. Der GKV-Spitzenverband - als Interessen-Vertretung aller gesetzlichen Kranken- und Pflegekasssen - spricht davon, dass im Jahr 2022 und 2023 Betrugstaten in Höhe von gut 200 Millionen Euro aufgedeckt wurden. Experten schätzen aber, dass der tatsächliche Schaden eher im zweistelligen Milliarden-Bereich liegt.

Darauf deuten internationale Studien hin. Dort wird der Schaden durch Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen mit fünf bis zehn Prozent der Gesamtausgaben beziffert. Nimmt man nun die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland in Höhe von zuletzt 327 Milliarden Euro, ergibt sich daraus eine Spannbreite von rund 16 bis 32,7 Milliarden Euro.

Bei der Krankenkasse KKH in Hannover sitzt eine Gruppe von Menschen an einem Tisch zu einer Besprechung. © NDR Info Foto: Anina Pommerenke
AUDIO: Wie Krankenkassen-Ermittler Betrügereien aufdecken (4 Min)

Ermittler sind inzwischen Pflicht

Bei der Krankenkasse KKH in Hannover sitzt eine Gruppe von Menschen an einem Tisch zu einer Besprechung. © NDR Info Foto: Anina Pommerenke
Bei Emil Penkov und seinem Team ist bei den Ermittlungen Hartnäckigkeit und Ausdauer gefragt.

Angesichts der Tragweite des Betrugs im Gesundheitswesen hat die Politik den Krankenkassen per Gesetz den Auftrag erteilt, den Betrug zu bekämpfen. So gibt es bei allen 94 Mitgliedskassen eine sogenannte Fehlverhaltenbekämpfungsstelle. Bei kleineren Krankenkassen ist dies oft nur eine Person. Die größeren Kassen haben hingegen ein Ermittlungsteam aufgestellt. Mal sind es sieben Personen, mal eher 20. Bei der KKH in Hannover gehören acht Männer und Frauen zum Kernteam. Die Krankenkasse hat bundesweit rund 1,5 Millionen Versicherte.

Anonyme Hinweise sind wichtig

Auf die meisten Fälle stößt das Ermittler-Team der KKH nicht von selbst. "Wir sind sehr stark auf Hinweise Dritter angewiesen", macht Teamleiter Penkov deutlich. "Das ist der Hauptteil - zum Beispiel kommen Tipps von aktiven oder ehemaligen Mitarbeitenden eines Pflegedienstes oder einer Physiopraxis. Oder von Angehörigen eines pflegebedürftigen Patienten, dass der Pflegedienst nicht korrekt abrechnet."

Solche Hinweise können anonym übermittelt werden - beispielsweise über spezielle Meldeportale der Krankenkassen, aber auch einfach per E-Mail, Post oder Telefon. "Solche Hinweise sind für uns natürlich ganz, ganz wichtig, um Verdachtsmomente zu erhärten. Das ist Insider-Wissen", sagt Penkov.

"Das schaffen wir nur mit KI"

Aber der Chef-Ermittler will mehr. Er will die Betrügereien "proaktiv" aufdecken, wie er sagt. Also selbst herausfinden, wo etwas schief läuft. "Klar, wir können keine Einzelfall-Prüfung vornehmen. Dafür ist einfach die Masse der Abrechnungen zu groß. Wir können auch nicht zu Fuß alle Fälle aufarbeiten. Das schaffen wir nur mit Daten-Analysen, mit Künstlicher Intelligenz, mit technischer Unterstützung." Es gehe darum, bestimmte Muster bei den Betrügereien auszumachen, so Penkov. Schon seit Längerem werden die wichtigsten Daten automatisch ausgewertet. Aber mit KI könne nun noch ein großer Sprung nach vorn gelingen.

Experte fordert größere Anstrengungen

Schon wenige Betrugsfälle können großen Schaden anrichten. "Es gibt wenige schwarze Schafe im Gesundheitswesen, die enorme Summen abzweigen", sagt Franz Benstetter. Er ist Professor für Sozialversicherungen und Gesundheitsökonomie an der Technischen Universität Rosenheim.

Seine Forderung: mehr Personal und mehr Geld, um gegen die systematischen Betrügereien anzugehen. "Ist das den Aufwand wert? Ja, das lässt sich klar sagen. Denn ohne die Betrügereien könnte der Beitragssatz für alle Versicherten deutlich geringer sein." Schließlich gehe es um Milliarden-Summen. Nicht nur die Krankenkassen seien bei den Ermittlungen gefragt, sondern auch die Staatsanwaltschaften.

Spezialisierte Staatsanwälte sind ein Vorteil

Benstetter lobt, dass immerhin zwölf Bundesländer spezielle Staatsanwaltschaften eingerichtet haben, die auf Straftaten im Gesundheitswesen schauen. Im Norden sind Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein sowie Hamburg und Bremen dabei - nur Niedersachsen fehlt in dieser Reihe. Beim Bund Deutscher Kriminalbeamter heißt es: Betrügereien im Gesundheitswesen aufzudecken, sei eine sehr komplexe Aufgabe. Ärzte, Kliniken, Apotheken, Sanitätshäuser - alle rechneten aufgrund unterschiedlicher Verträge unterschiedlich ab.

Stichwort Patientenquittung: Was kostet eigentlich mein Arztbesuch?

Als Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse erfährt man nicht automatisch, welche Leistungen die Ärztin oder der Arzt abrechnet und welche Kosten damit verbunden sind. Wer hier einen Überblick gewinnen möchte, kann sich von seiner Arztpraxis oder dem Krankenhaus eine "Patientenquittung" ausstellen lassen. Dort sind alle Leistungen und Kosten aufgeführt, die bei der Krankenkasse in Rechnung gestellt werden.

Gefälschte Rezepte führen zu Millionen-Schaden

Experte Benstetter geht davon aus, dass die fortschreitende Digitalisierung dazu beiträgt, Betrug im Gesundheitswesen zu verhindern. Ein positives Beispiel sei das E-Rezept. Dies sei deutlich schwerer zu fälschen als handschriftlich ausgestellte Rezepte.

Denn gefälschte Rezepte auf Papier sind ein großes Problem. Hier geht es laut des GKV-Spitzenverbandes häufig um die begehrte Abnehmspritze Ozempic und Schmerzmittel wie Tilidin und Fentanyl. Zuletzt summierte sich der Schaden auf 86 Millionen Euro - und das sind nur die Fälle, wo die Fälschungen erkannt wurden. Die Krankenkassen können sich zwar von den Apotheken das Geld zurückholen, wenn sie grob fahrlässig gehandelt haben. Aber im Normalfall gehen die Rezept-Betrügereien zu Lasten der Krankenkassen - und nicht zu Lasten der Apotheken.

Wenn der Praktikant am Beatmungsgerät steht

Was Emil Penkov in seinem Job antreibt, ist aber nicht allein, den finanziellen Schaden für seinen Arbeitgeber einzudämmen. Mitunter geht ein Abrechnungsbetrug auch auf Kosten der Gesundheit von Patienten. Zum Beispiel im Falle eines Apothekers, der ein Krebsmedikament in zu niedriger Dosis herausgab.

"Ich kann mich auch noch gut an den Fall auf der Intensivstation eines Krankenhauses erinnern", sagt Penkov. Da seien Leistungen abgerechnet worden, die nur besonders geschultes Personal erbringen darf. "Aber in diesem Fall war es so, dass sogar Praktikanten an das Beatmungsgerät ran durften. Nicht auszudenken, was da hätte passieren können."

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NDR Info | Aktuell | 14.04.2025 | 07:37 Uhr

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