Mehr Gewalt: "Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft"
In allen norddeutschen Bundesländern gab es nach offiziellen Zahlen zuletzt deutlich mehr Gewalttaten an Schulen als im Vorjahr. Experten sehen als Ursachen die Pandemie, soziale Medien und eine Verrohung der Gesellschaft.
Schläge, Erpressung, Messerangriffe: Die Zahlen aller norddeutschen Bundesländer legen nahe, dass es an Schulen derzeit gewalttätiger zugeht als im Vorjahr. Das bestätigte der stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Tomi Neckov, im NDR Info Interview. "Die Schule ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wir erleben eine allgemeine Verrohung des Miteinanders, der Umgangsformen." Der Umgangston in den Schulen sei rauer geworden, sagt auch der Oldenburger Schulleiter und Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands, Sven Winkler. Es komme zu gravierenden rassistischen, sexistischen und beleidigenden Beschimpfungen. Und: "Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher."
Anstieg von etwa einem Viertel in Hamburg und Niedersachsen
In Niedersachsen ist die Gesamtzahl der Opfer im Kontext Schule von rund 2.630 im Jahr 2022 um ein Viertel auf etwa 3.270 im Jahr 2023 gestiegen. Bekannt ist, dass davon rund 1.110 Schülerinnen und Schüler sowie knapp 150 Lehrkräfte waren. Zu den anderen Opfern gab es laut Landeskriminalamt Niedersachsen keine Details.
An Hamburger Schulen sind im Schuljahr 2022/23 insgesamt 261 Kinder, Jugendliche und Beschäftigte Opfer einer bei der Polizei gemeldeten Gewalttat geworden. Das entspricht laut Schulbehörde einem Anstieg um 23 Prozent im Vergleich zum Schuljahr davor. Am häufigsten ging es um Körperverletzungen. Fälle wurden von 123 der gut 410 allgemeinbildenden Schulen gemeldet. Besonders betroffen waren die Stadtteilschulen, die Haupt-, Real- und Gesamtschulen vereinen. Die Tatverdächtigen waren fast immer männlich.
Im Vergleich zum letzten vollständigen Vor-Corona-Schuljahr 2018/19 bedeuten die Hamburger Zahlen einen Anstieg um 84 Prozent. Die Beratungsstelle Gewaltprävention der Hamburger Schulbehörde macht als eine Ursache das fehlende soziale Leben und Lernen mit Gleichaltrigen und die mangelnde Sozialarbeit während der Pandemie aus. "Bei der Rückkehr in die Schulen agierten viele Kinder und Jugendliche aufgrund dieser Defizite durch körperliche Auseinandersetzungen und Gewalt." Mit der Zeit gehe man von einem Rückgang der Vorfälle aus, heißt es. Auch Pädagogik-Professor Menno Baumann von der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf sagt, dass es für einige Jahrgänge wegen der Pandemie nicht möglich war, Straftaten zu begehen und Gewalt zu zeigen. Das sei jedoch in einem gewissen Alter ein bekanntes Phänomen. "Jetzt sehen wir zwei Generationen gleichzeitig aktiv, die sonst wahrscheinlich nacheinander dran gewesen wären."
Hass über soziale Netzwerke
"Wir erleben sehr oft, dass Schüler sich über soziale Netzwerke verbinden und Hassparolen äußern oder sich herablassend äußern", sagt Schulleiter Martin Neutmann vom Schulzentrum Am Sund in Stralsund. Einige Tage später würden Schülerinnen und Schüler sich mit ihren Erfahrungen an Lehrkräfte wenden. Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist die Zahl der gemeldeten Gewalt-Vorfälle an Schulen laut Bildungsministerium gestiegen: Von 511 im Schuljahr 2021/2022 auf 769 Fälle im Schuljahr 2022/23. Erfasst wurden dabei unter anderem Körperverletzungen, die Androhung von Tötung, von Amoklauf oder Geiselnahme sowie Vorkommnisse mit Waffen, wie ein Ministeriumssprecher erklärte.
Das Landeskriminalamt in Schleswig-Holstein gibt ebenfalls an, dass Rohheitsdelikte und Sexualdelikte an Schulen zugenommen haben. Im Jahr 2023 lag die Zahl bei 1.290 - rund 30 Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor (990).
Verband vermutet hohe Dunkelziffer
Umfragen des Verbands Bildung und Erziehung zeigten, dass jeder fünfte Schulleiter das Gefühl habe, die Meldung solcher Gewalt sei unerwünscht, sagte Tomi Neckov NDR Info. Zudem sei es schlecht für den Ruf einer Schule, wenn es dort viele Gewaltvorfälle gebe. "Deswegen glauben wir, dass die Zahl wesentlich höher ist." Neckov wünscht sich, dass Lehrkräfte ermuntert werden Gewalt anzuzeigen. Und es sei mehr Jugendsozialarbeit nötig; das Startchancen-Programm von Bund und Ländern, das nach den Sommerferien beginnen soll, sei ein erster guter Schritt. Aktuell fehlt es oft an Personal, Zeit und Geld für gute Sozialarbeit an Schulen.
Neckov glaubt, dass die Gesellschaft wieder mehr Respekt vorleben und Solidarität miteinander zeigen müsse, damit auch Schülerinnen und Schüler dem folgen. "Denn wir alle sind Vorbilder für die Kinder. Es gab mal einen berühmten Pädagogen, der gesagt hat: 'Man kann Kinder nicht erziehen, sie machen einem sowieso alles nach'."