Keine Verkehrstoten: Was Helsinki richtig macht
Der Begriff "Vision Zero" beschreibt das Ziel, die Zahl der Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr auf Null zu bringen. Die Stadt Helsinki war, dank entsprechender Maßnahmen, damit erfolgreich.
Für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat gehört die "Vision Zero" seit 2007 zur Grundlage. Auch Stadtplaner betonen immer wieder, dass vor allem die Infrastruktur so gestaltet werden müsse, dass Unfälle mit Getöteten und Verletzten ausbleiben. In Deutschland geht die Zahl der Getöteten und Verletzten zwar zurück, die Zahl der Radfahrer, die ums Leben kamen, stieg aber zuletzt um 11 Prozent. In Helsinki hingegen wurde das Ziel "Vision Zero" gerade erreicht - die NDR Info Perspektiven haben sich die finnische Strategie angeschaut: In Helsinkis Innenstadt fahren Straßenbahnen und ein paar Autos schön langsam auf engen und klar abgegrenzten Fahrbahnen. Es wirkt sehr finnisch - ohne Hektik. Lohn dafür war das Rekordjahr 2019, als nicht ein Radfahrer oder Fußgänger im Straßenverkehr ums Leben gekommen ist. Anni Sinnemäki hat sich, wie alle rund 650.000 Einwohner der Stadt, darüber gefreut. Sie ist als stellvertretende Bürgermeisterin verantwortlich für Stadtentwicklung und damit auch für die Verkehrspolitik: "Schaut man auf so ein einzelnes Jahr, kann das natürlich Zufall gewesen sein. Aber 2019 zeigt auch, dass in Helsinki schon lange systematisch an der Verbesserung der Verkehrssicherheit gearbeitet wird."
Tempo 30 als Standard, nicht als Ausnahme
Anfang der 1990er Jahre fing die Stadt an, Kreuzungen durch Kreisverkehre zu ersetzen und Bodenschwellen auf die Straßen zu bauen, um Autos und Lastwagen zu bremsen. Mit Erfolg, findet Sinnemäki: "Wichtig ist die Verlangsamung des motorisierten Verkehrs. Als Helsinki 1992 die Höchstgeschwindigkeit senkte, ging auch die Zahl der Unfälle deutlich zurück. Daran haben wir weiter gearbeitet. Zuletzt wurde die Geschwindigkeit 2018 in der Stadt auf 30 Stundenkilometer begrenzt." Nur auf großen Verkehrsachsen in der Stadt darf etwas schneller gefahren werden. Doch auch dort nur gemächliche 40 Stundenkilometer. Höheres Tempo ist lediglich auf Schnellstraßen erlaubt - und die sind für Radfahrer und Fußgänger gesperrt.
Abkehr vom motorisierten Individualverkehr
Das eine ist, den fließenden Verkehr langsamer und Tempo 30 zum Standard zu machen. Das andere sei der Ausbau von Alternativen, sagt Anni Sinnemäki: "Ich halte es auch für wichtig, dass der Anteil des nachhaltigen Verkehrs in Helsinki sehr hoch ist. Fast 80 Prozent aller Wege werden heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Das reduziert vor allem die Zahl der schweren Unfälle, bei denen häufiger Menschen sterben."
Sicherheit der Schwächeren im Vordergrund
So wurde der Verkehrsraum immer sicherer. In Helsinki sind Autos und Lkw, aber auch Motorräder und Roller entweder klar von Radlern und Fußgängern getrennt unterwegs oder dürfen nur sehr langsam fahren, wenn das nicht geht. Die Umgebung von Schulen hat dabei in Helsinki Vorrang. Auch das mit Erfolg: Seit 2015 ist kein Kind mehr im Verkehr der finnischen Hauptstadt ums Leben gekommen: "Wir arbeiten intensiv an der Verbesserung des Verkehrsraumes und fragen, wie breit müssen Bürgersteige sein, wie sollte man Zebrastreifen anlegen, wie schirmen wir die Fahrradwege ab und stellen sicher, dass die Verkehrsregelungen befolgt werden." Das übernimmt die Polizei unter anderem auch mit einem Netz von Kameras, die nicht nur Ampeln überwachen, sondern auch gesperrte Straßen oder Einbahnstraßen. Ganz ohne Kontrolle geht es eben auch in Finnland nicht, wo viele Bürger anfangs wenig begeistert waren von den immer umfassenderen Einschränkungen. Auch Oskari Oranen war einer von ihnen. Heute denkt er ganz anders darüber: "Vor einigen Jahren hätte ich mindestens die Hälfte der Begrenzungen zum Teufel gewünscht. Aber jetzt habe ich vier Kinder und würde mir wünschen, dass die Geschwindigkeiten noch niedriger wären und dass sich alle Fahrer tatsächlich daran hielten."
In Deutschland momentan nur Modellversuche
Auch in Oslo haben ähnliche Maßnahmen zum Erfolg geführt: Hier gab es 2019 nur einen Verkehrstoten. Lässt sich die Strategie auch auf Deutschland übertragen? Aus Sicht des Verkehrsclub Deutschland ist klar, dass deutsche Städte und Kommunen sehr viel mehr unternehmen könnten, um die hiesigen Straßen sicherer zu machen und viele Verkehrstote zu verhindern. Auf der anderen Seite sei ihr Handlungsspielraum durch eine überholte Gesetzgebung begrenzt, sagt VCD-Sprecherin Anika Meenken: "Zwar kann man auch in deutschen Großstädten flächendeckend Tempo 30 einrichten, wie etwa in der Mainzer Innenstadt, oder sogenannte Schulstraßen einführen, wie Osnabrück es vormacht - allerdings ist das bislang nur als zeitlich begrenzter Modellversuch möglich."
Veraltete Gesetze bremsen Verkehrswende in Deutschland
Um "Vision Zero" auch in deutschen Städten zu erreichen, brauche es eine Umkehr der aktuellen Grundregel. Die lautet momentan: Innerorts gilt Tempo 50, Tempo 30 nur in Ausnahmen auf bestimmten Strecken. Damit aber Tempo 30 zur Regel werden kann, müsse die Straßenverkehrsordnung entsprechend angepasst und die "Vision Zero" gesetzlich in ihr verankert werden, fordert der VCD. Um der Verkehrswende einen rechtlichen Rahmen zu geben, brauche es zuerst ein Bundesmobilitätsgesetz, sagt Meenken: "Das Bundesmobilitätsgesetz soll den Rahmen für die Verkehrsplanung und -gestaltung über alle bestehenden Verkehrsgesetze hinweg setzen." Auf dieser Grundlage könne man nicht nur "Vision Zero", sondern auch weitere Ziele wie "Mobilität für alle" sowie Klima- und Gesundheitsschutz rechtlich verankern.