Humanitäre Hilfe für Syrien: "Voller Hoffnung und hoch motiviert"
Nach dem Sturz des Assad-Regimes können nun Hilfsorganisationen dringend benötigte Sachspenden nach ganz Syrien liefern. Dafür braucht es aber neue Ansprechpartner vor Ort, denen sie vertrauen. Die Vorbereitungen laufen auch in Hamburg auf Hochtouren.
Hassan Ied bahnt sich seinen Weg in die kleine Halle in der Schnackenburgallee, in der die gemeinnützige Organisation Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft e.V. Hamburg ihr Lager hat - vorbei an etlichen Rollstühle, Gehhilfen und Kinderwagen, die noch vor dem Gebäude stehen. So viele Hilfsgüter - vor allem medizinisches Gerät - hat der Allgemeinmediziner, der bereits 1973 aus Syrien nach Deutschland flüchtete, organisiert, dass die Halle schon gut gefüllt ist. Es wird Zeit, dass diese Sachen nun auch nach Syrien kommen. Denn dort wird "eigentlich alles gebraucht", wie Ied berichtet. Unter anderem Zelte, Matratzen und warme Decken, denn viele Häuser in Syrien liegen in Trümmern - auch in dem Dorf bei Damaskus, aus dem Ied ursprünglich stammt. Die Menschen, die nun ihr Land wieder aufbauen möchten, brauchen ein Dach über dem Kopf. Auch in Syrien ist es im Winter kalt.
Immer wieder kommen neue Sachen an, die in dem von Krieg und Diktatur gebeutelten Land dringend benötigt werden. Ied ist gut vernetzt: Ein Kollege, der seine Arztpraxis auflöst, wird sein Equipment spenden, und auch aus Krankenhausbeständen gibt es ausgemusterte, aber immer noch gut funktionierende Geräte - etwa ein großer Röntgenapparat für bildgebende Verfahren, um Bombensplitter lokalisieren zu können.
Alles steht bereit - Ansprechpartner vor Ort werden organisiert
Hilfsgüter, Fahrzeuge, Container: Für die nächste Hilfslieferung - die erste nach dem Sturz des Assad-Regimes - steht eigentlich alles bereit. Kommendes Wochenende soll es losgehen. Doch das Gebiet, in dem Ied und seine Leute nun helfen wollen, ist viel größer geworden, hat sich auf ganz Syrien ausgedehnt. Vertrauensleute, die den Eingang der Hilfsgüter dokumentieren und die Sachen verteilen, fehlen in den befreiten Gebieten teilweise noch. "Vorher haben wir mit einigen Ansprechpartnern im Verborgenen gearbeitet. Jetzt können wir Kontakte knüpfen - ohne Angst, dass wir unseren Angehörigen dort schaden können. Hals über Kopf hat sich alles grundlegend geändert - aber zum Positiven", berichtet Ied. Bislang waren die Kontaktleute seines Hamburger Vereins in der Stadt Idlib, die nicht vom Assad-Regime beherrscht war. Nun schwärmen sie auch in die anderen Landesteile aus, müssten weite Wege in Kauf nehmen, um auch dort entweder selbst Hilfe zu leisten oder neue Vertrauensleute zu finden. "Aber sie sind hochmotiviert!"
Hilfstransporte sind nun einfacher und risikoärmer
Durch den Machtwechsel müssen nun Gegner des früheren Regimes, die Hilfe nach Syrien bringen, nicht mehr befürchten, bei der Einreise grundlos verhaftet zu werden. Insgesamt hofft Ied, dass es nun weniger Probleme geben wird. Aber die Not ist sehr groß, 90 Prozent der Bevölkerung leben an oder unterhalb der Armutsgrenze. "Wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Es gibt keine Ambulanzen, nicht genügend Häuser, Straßen sind kaputt. Die Infrastruktur und die Versorgung der Bevölkerung sind sehr mangelhaft. Es ist zwar Aufbruchstimmung, die Freude verringert den Schmerz. Aber der Bedarf ist sehr groß", sagt der Exil-Syrer und bekommt das auch direkt von einem Freund bestätigt, der bislang im nordsyrischen Idlib die Verteilung der Hilfsgüter mit organisiert hatte. In den vergangenen Tagen ist er herumgereist, erzählt er Ied am Telefon, und hat nun auch Menschen in Damaskus gefunden, denen er vertraut. So kann die neue Hilfslieferung in die syrische Hauptstadt gehen.
Medizinische Hilfe auch für ehemalige Folter-Opfer
Und gerade auch medizinische Hilfsgüter, wie der Arzt Ied sie gesammelt hat, werden benötigt. Für die vielen Kriegsopfer, aber auch für die vielen früheren Insassen aus dem berüchtigten Militärgefängnis Saidnaja. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt das Gefängnis nördlich von Damaskus ein "Schlachthaus für Menschen". Als die Rebellen am Sonntag die Hauptstadt eroberten, befreiten sie Tausende Gefangene, von denen manche jahrzehntelang in Saidnaja inhaftiert waren. Manche waren so schwach, dass Mitgefangene sie aus ihren Zellen tragen mussten. "Die befreiten Gefangenen gehen zu ihren Angehörigen, die sie aber nicht medizinisch versorgen können. Wir, die wir helfen können, müssen uns jetzt tatsächlich noch mehr anstrengen, damit wir dieses Leid lindern", appelliert Ied.
Seine kleine Organisation, in der alle ehrenamtlich arbeiten, werde allein den großen Bedarf nicht decken können. Deshalb hoffe er auf Unterstützung etwa durch das THW, das Deutsche Rote Kreuz und die Bundeswehr in Hinblick auf ausgemusterte Zelte, Matratzen oder Feldbetten: "Es muss Hilfe im großen Stil kommen. Das, was wir hier machen, ist ein Tropfen auf den heißen Stein."
Hilfsorganisationen haben laufende Programme wieder aufgenommen
Auch andere Hilfsorganisationen packen mit an und sehen sich mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert. "Die Herausforderungen, die jetzt mit einem ganz neuen geografischen Gebiet zusammenhängen, sind natürlich enorm", sagt Janine Lietmeyer von Word Vision im Interview mit NDR Info. "Wir von World Vision - aber auch viele andere Hilfsorganisationen - haben jetzt schon nach einer Woche Unsicherheit unsere laufenden Programme wieder aufgenommen." Die Organisation, die vor allem auch Frauen und Kinder als Hilfsbedürftige im Blick hat, arbeitet ebenfalls mit Teams in Syrien zusammen. Alle hofften, dass sie sich darauf verlassen können, wenn die neuen Machthaber, zu denen auch die islamistische HTS gehört, sagen, dass ihnen die Versorgung der Zivilbevölkerung ein großes Anliegen sei.
Syrien-Referentin der Caritas: "Jetzt gerade gibt es Hoffnung"
Darauf setzt auch Caritas international. Das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes der römisch-katholischen Kirche versorgt Caritas-Organisationen in Syrien mit Geldspenden, die davon Hilfsgüter kaufen. Die Partner vor Ort hätten mit der islamistischen HTS-Miliz in Idlib in der Vergangenheit bereits ganz gute Erfahrungen gemacht, berichtet Syrien-Referentin Regina Kaltenbach im Gespräch mit NDR Info: "Sie haben erzählt, dass sie mit denen Hilfsprojekte entsprechend unserer humanitärer Prinzipien umsetzen können."
Dennoch sei bei aller Freude über das Ende der Assad-Diktatur am Sonntag die Angst bei der christlichen Minderheit anfangs sehr groß gewesen. Das habe sich inzwischen geändert: "Diese Woche erlebe ich insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort in Syrien sind, vorsichtig hoffnungsvoll." Nun herrsche Aufbruchstimmung, es gebe Ideen, was zukünftig alles machbar sei, welche neuen Projekte auch in Richtung Wiederaufbau initiiert werden könnten. Sie sieht auch ganz praktische Vorteile: Ihre Dienstreisen nach Syrien würden einfacher, weil es dann wieder Flugverbindungen nach Deutschland und Europa geben wird. Vieles sei aber noch ungewiss, etwa, ob Geldüberweisungen nach Syrien einfacher werden. Aber Kaltenbach ist optimistisch: "Sonntag war der schönste Tag in meiner beruflichen Laufbahn. Jetzt gerade gibt es Hoffnung."