Geplante Wahlrechtsreform: Was sagen Abgeordnete aus dem Norden?
Der Bundestag soll kleiner werden - schon lange wird über eine Reform des Wahlrechts diskutiert, um Überhangs- und Ausgleichsmandate zu verhindern und so die Zahl der Abgeordneten auf maximal 598 Abgeordnete zu begrenzen.
Zurzeit hat der Bundestag 736 Mitglieder und ist damit das zweitgrößte Parlament der Welt. Die Ampel-Koalition hat nun einen entsprechenden Gesetzesvorschlag für eine Reform in den Bundestag eingebracht. Hätten die geplanten Regelungen bei der Bundestagswahl 2021 schon gegriffen, wären auch fünf Abgeordnete aus Norddeutschland nicht über ihr Direktmandat in den Bundestag eingezogen.
Experte: Kleinerer Bundestag wäre handlungsfähiger
Dass der Bundestag kleiner werden muss, steht für den Politologen Klaus Detterbeck vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen fest, aus Kostengründen und weil teils Abläufe aufgrund der Größe verhindert würden. Schon der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte eine entsprechende Wahlrechtsreform vor mehr als fünf Jahren angeregt, ist aber damit gescheitert - und hat das Thema nach der jüngsten Bundestagswahl erneut angestoßen.
Die Ampel schlägt vor: Wenn eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt als ihr über die Ergebnisse der Zweitstimmen zustehen, dann werden die Wahlkreise mit den prozentual geringsten Stimmenanteilen vernachlässigt und ziehen nicht in den Bundestag ein. Folgen hätte das vor allem für die CDU in Baden-Württemberg und die CSU in Bayern mit jeweils einem Dutzend Überhangmandaten.
Anna Kassautzki: Reform den Wählenden schwer vermittelbar
In Mecklenburg-Vorpommern hätte das die SPD-Politikerin Anna Kassautzki aus dem Wahlkreis Vorpommern-Rügen/Vorpommern-Greifswald I betroffen. Nach Angaben des Bundeswahlleiters hat sie ihren Wahlkreis mit 24,3 Prozent der Stimmen direkt gewonnen - das wäre im Vergleich mit anderen Direktkandidaten zu wenig, sie hätte ihr Mandat nicht bekommen. Anna Kassautzki sieht die geplante Reform kritisch: "Wir beschweren uns immer darüber, dass die Wahlbeteiligung so niedrig ist und Vertrauen in die Politik fehlt und wenn dann Leute zur Urne gehen und wählen und jemand gewinnt direkt und zieht dann trotzdem nicht ein, weil woanders im Bundesland mehr Leute für die Partei abgestimmt haben, das halte ich tatsächlich für schwer vermittelbar."
Verhältniswahlrecht stärken oder Wahlkreise vergrößern?
Sie befürchtet verwaiste Wahlkreise, wenn die Gewinner im Zweifel nicht einziehen dürften aufgrund von formalen Vorgaben. Dieses Problem sieht auch der Politologe Detterbeck. Er schlägt ein anderes Vorgehen vor: Entweder das Verhältniswahlsystem, also die Bedeutung der Zweitstimmen, stärken, oder aber die Wahlkreise vergrößern und somit die Anzahl der Direktkandidaten verringern. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass aus formalen Gründen jemand nicht für seinen Wahlkreis in den Bundestag einziehen darf. Dafür spricht sich auch Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß aus: "Es gibt zum Vorschlag der Ampel-Koalition deutlich bessere Alternativen, zum Beispiel insgesamt die Zahl der Wahlkreise in Deutschland zu reduzieren. Dass ein Abgeordneter, der direkt gewählt wurde, nicht ins Parlament einzieht, schadet der Demokratie. Viele fragen sich dann nach der Wahl, warum sie überhaupt ihre Stimme abgegeben haben."
Könnten zu große Wahlkreise zu weniger Bürgernähe führen?
Allerdings könnten einzelne Wahlkreise dann sehr groß werden und einen enormen Mehraufwand für den direkt gewählten Abgeordneten bedeuten. Abgeordnete Kassautzki befürchtet, dann weniger Zeit für alle Bürgerinnen und Bürger zu haben: "Ich habe das Glück, dass ich keinen Betreuungswahlkreis habe und noch andere Gebiete abdecken muss. Aber selbst ich schaffe es nicht, überall genug zu sein, weil wir eine große Fläche und viele Menschen abzudecken haben - ich möchte im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern sein." Detterbeck schlägt vor, dass dann die anderen Abgeordneten, die über die Landesliste einer Partei in den Bundestag eingezogen sind, den jeweiligen Direktkandidaten unterstützen könnten. "Dass Leute, die über die Liste einziehen, trotzdem vor Ort auch präsent und aktiv sind und sich auch als Vertreter des Wahlkreises sehen. Tatsächlich ist das heute schon so und das kann noch gestärkt werden, gerade wenn die Wahlkreise größer werden müssen."
Weitere Diskussion um Bundestagsreform nötig
Anna Kassautzki wiederum findet nicht, dass es grundsätzlich zu viele Bundestags-Abgeordnete gibt. Aber dass der Bundestag in seiner Größe so schwankt, verunsichere die Wähler. Auch ihr SPD-Kollege Mathias Stein aus Kiel sieht es ähnlich, der nach der neuen Regelung ebenfalls nicht direkt eingezogen wäre. Er wehrt sich auch gegen den Vorwurf, die Abgeordneten würden zu viel Geld bekommen: "Wir bekommen sehr viel Geld, 10.000 Euro. Wir zahlen da ungefähr ein Drittel von Steuern, dann gibt es noch mal zehn Prozent Abgaben an die Partei und wenn man das vergleicht mit Führungspersönlichkeiten in anderen öffentlichen Betrieben, dann gibt es eine Vielzahl von Menschen, die auch in dieser Kategorie sind - oder auch darüber. Wir haben einen harten Workload, der deutlich über 60, 70, 80 Stunden ist, wenn mich Bürger auf der Straße in Kiel ansprechen, bin ich auch immer ansprechbar."