20 Jahre nach der Katastrophe: "Der Tsunami ist ein Teil unseres Lebens"

Stand: 26.12.2024 07:36 Uhr

Vor 20 Jahren überfluteten von einem Seebeben ausgelöste Wellen zahlreiche Küsten am Indischen Ozean – teilweise waren die Wellen in Küstennähe mehr als 40 Meter hoch. Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 kostete etwa 230.000 Menschen das Leben, darunter waren auch 537 Deutsche.

von Anina Pommerenke

Die beiden Schwestern Nina und Michelle zeigen Bilder von dem komplett zerstörten Magic Lagoon Resort in Khao Lak, wo sie zum Zeitpunkt der Tsunami-Katastrophe mit ihrer Familie Urlaub gemacht haben. © NDR Foto: Anina Pommerenke
Die Fotos von einem Besuch in Khao Lak im Februar 2005 zeigen das Ausmaß der Zerstörung.

Einige der Fotos sehen Nina Eigenfeld (36) und ihre jüngere Schwester Michelle Kosian (28) zum ersten Mal. Sie sind sorgfältig in Sichthüllen einsortiert und in einem Ordner abgeheftet. Sie zeigen das komplett verwüstete Magic Lagoon Resort in Khao Lak, wenige Wochen nach dem verheerenden Tsunami vom 26. Dezember 2004. Ihr Zimmer mit der Nummer 2130: komplett zerstört. Nur die schlammige Matratze liegt noch auf dem Boden. Die Aufnahmen haben ihre Eltern gemacht, die oft zurückkehrten an den Ort der Katastrophe - um persönliche Gegenstände der aus Wohltorf bei Hamburg stammenden Familie zu suchen und den Einheimischen beim Wiederaufbau zu helfen.  

"Plötzlich ging alles ganz schnell"

Nina Eigenfeld und Michelle Kosian erinnern noch viele Details vom Morgen des 26. Dezembers. Während ihre Eltern und ein jüngerer Bruder bereits zum Strand und Frühstückssalon aufgebrochen waren, wollte die damals acht und sechzehn Jahre alten Schwestern noch auf dem Zimmer bleiben. Es ist ein sonniger Tag um kurz nach zehn, als die beiden das braune Wasser auf dem Boden ihres Hotelzimmers bemerken. "Plötzlich ging alles ganz schnell und wir haben gesehen: Das Wasser steigt. In dem Moment habe ich mich umgedreht, Shelly genommen und auf dieses Bett gesetzt. Warum weiß ich nicht, das war wohl einfach Intuition", berichtet Eigenfeld. Dann habe sie sich umgedreht und schon sei die riesige Fensterscheibe gesprungen.

Wie durch ein Wunder überleben die Schwestern

Was sich in den nächsten Minuten ereignet, kommt den Schwestern wie eine Ewigkeit vor: Während die acht Jahre alte Michelle auf der Matratze unter die Decke des Hotelzimmers gehoben wird und dort in einer Luftblase überlebt, verheddert sich Nina in Bettlaken, wird von dem schlammigen Wasser mitgerissen. "Alles war dunkel und ich dachte einfach, das war es jetzt." Doch sie wird von anderen Touristen aus dem Wasser gezogen und ins zweite Stockwerk des Hotels gerettet. "Ich habe die ganze Zeit geschrien", erinnert sich Michelle Kosian. Dann sinkt der Wasserpegel wieder und im Treppenhaus treffen sich die beiden Schwestern schnell wieder.

Keine Zeit zum Verschnaufen: Die zweite Welle kommt

Sie laufen ins obere Stockwerk, um sich einen Überblick zu verschaffen - haben kurz Augenkontakt mit ihrem Vater, der sich auf die Suche nach seiner Frau und seinem Sohn macht. Doch Zeit zum Verschnaufen bleibt ihnen nicht: Eine zweite Welle kommt. Menschen schreien, rufen ihnen zu, dass sie auf einen Hügel laufen sollen. Die Schwestern rennen ohne Schuhe durch die Trümmer, retten sich mit anderen Urlaubern auf den nahegelegenen Hügel. Dort treffen sie auf ihren Vater und den schwer verletzten Bruder. Michelle Kosian singt dem HSV-Fan das Lied "Hamburg, meine Perle vor", damit er bei Bewusstsein bleibt. Direkt daneben legt ein Vater sein totes Kind auf die Erde.

Die beiden Schwestern Nina und Michelle zeigen Bilder von dem komplett zerstörten Magic Lagoon Resort in Khao Lak, wo sie zum Zeitpunkt der Tsunami-Katastrophe mit ihrer Familie Urlaub gemacht haben. © NDR Foto: Anina Pommerenke
AUDIO: 20 Jahre nach dem Tsunami: Überlebende berichten (5 Min)

Fast die Hälfte der Menschen in ihrem Hotel sterben

"Das läuft wie ein Film ab. Man kann in dem Moment nicht fassen, was jetzt gerade los ist - ein paar Minuten vorher war noch alles gut. Man hat einfach funktioniert", beschreibt Nina Eigenfeld ihr Verhalten. Und auch ihre jüngere Schwester reflektiert, dass sie sich in einer Art Überlebensmodus befunden habe. Als kleines Mädchen sei ihr lange nicht klar gewesen, was gerade überhaupt passiere. "Wie krass das überhaupt war, hat man erst Jahre später realisiert. Ich finde es so heftig, dass wir alle noch zusammen sind, obwohl alle Statistiken dagegen gesprochen haben."

Von 500 Gästen der Hotelanlage und 250 Angestellten werden in den folgenden Tagen 300 tot geborgen. Tagelang durchsuchen Soldaten und Freiwillige die zerstörten Hotelzimmer und den Schlamm nach Leichen. Diese werden in Innenhöfen von Tempeln und Krankenhäusern aufgereiht. Das alles müssen die beiden Schwestern mitansehen, die heute in Lüneburg und Aumühle bei Hamburg leben.  

Anruf nach Deutschland: "Wir leben!"

Eigenfeld und Kosian schlafen nur leicht verletzt zwei Tage lang vor einem Krankenhaus. Dann finden sie auch endlich ihre Mutter wieder - sie war in dem Chaos in ein anderes Krankenhaus gebracht worden. Einmal darf der Vater einen Anruf nach Deutschland absetzen und die Großeltern und eine ältere Schwester darüber informieren, dass sie alle am Leben sind. "Oma hat mal erzählt, dass Opa in dem Moment einen unfassbaren Schrei ausgestoßen hat", erinnert sich Eigenfeld. Mit notdürftig ausgestellten Dokumenten können sie - nur mit Shirts und Shorts bekleidet - endlich nach Hause fliegen. In der Heimat muss der Bruder zwar noch im Krankenhaus in Reinbek behandelt werden, doch kein Familienmitglied trägt bleibende körperliche Verletzungen davon.

Familie setzt sich nach Tsunami für Einheimische in Khao Lak ein

Nur wenige Wochen nach der Katastrophe kehren die Eltern der beiden nach Khao Lak zurück. Der Ort nördlich von Phuket liegt an der thailändischen Westküste, ist besonders hart getroffen. Jahrelang engagiert sich die Familie für den Wiederaufbau - denn die Einheimischen seien damals extrem freundlich und hilfsbereit gewesen.

Der Vater verkauft unter anderem ein Auto, kauft Einheimischen neue Arbeitsgeräte, lässt Häuser wieder aufbauen, übernimmt Schulpatenschaften. Michelle Kosian sammelt an ihrer Grundschule 51 Kuscheltiere für Kinder vor Ort. "Ich weiß noch, dass eine Thailänderin mir Flipflops geschenkt hat, damit ich nicht weiter barfuß durch die Trümmer laufen muss. Das muss man sich mal vorstellen, die hat vermutlich selbst gerade alles verloren", beschreibt Nina Eigenfeld die Hilfsbereitschaft der Menschen vor Ort.

Aus dem zerstörten Hotel bringen die Eltern auch einige persönliche Gegenstände mit zurück: darunter Kuscheltiere. "Meinen Löwen habe ich dann so oft gewaschen und gespült, bis er wieder wie neu aussah", erzählt Michelle Kosian. Sie hofft, dass sie das Kuscheltier - den Zeitzeugen - irgendwann ihren eigenen Kindern schenken kann.

Urlaub am Wasser kommt nicht mehr infrage

Auch zwanzig Jahre nach der Katastrophe wühlen die Bilder der Zerstörung die beiden Schwestern auf: Urlaub direkt am Meer - das käme für sie nicht mehr infrage, noch nicht einmal an der Nordsee. Michelle Kosian ist nie der große Wasser-Fan geworden, manche Geräusche - gerade in der Dunkelheit - würden sie manchmal blitzschnell in die Situation von damals zurückholen. Dennoch haben beide es geschafft, mit dem Erlebten ihren Frieden zu machen. Durch Gespräche in der Familie oder Reisen.

Das Bild zeigt die beiden Schwestern Nina und Michelle, die gemeinsam den Tsunami in Thailand überlebt haben. © NDR Foto: Anina Pommerenke
Michelle Kosian und Nina Eigenfeld haben gemeinsam den Tsunami überlebt und vertrauen sich blind.

Für Nina Eigenfeld wurde der 26. Dezember in doppelter Hinsicht zum Schicksalstag. Auf den Tag genau zehn Jahre später lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen – mittlerweile haben die beiden drei Kinder. Für ihr jetziges Leben sei sie unfassbar dankbar, sie müsse sich jetzt nicht mehr fragen: Warum darf ich weiterleben, welche Aufgabe habe ich? Eine Frage, die sie lange belastet habe.

Flaschenpost für das Meer in Thailand zum 20. Jahrestag

Die Schwestern vertrauen sich bis heute blind, das Erlebnis hat sie zusammengeschweißt - mittlerweile haben sie sogar gemeinsam in Lüneburg eine Werbeagentur gegründet. Auch der Familienzusammenhalt sei stark. Gerade erst habe ihre ältere Schwester, die damals zuhause geblieben war, für jedes Familienmitglied mit ihren Kindern eine Flaschenpost gebastelt. Die Idee: Jetzt, zwanzig Jahre später, können die Familienmitglieder noch einmal ihre Gedanken und Gefühle zu dem Tag der Katastrophe aufschreiben. Die ältere Schwester wird die Worte in Thailand dem Meer übergeben.

Dankbarkeit und Urvertrauen: "Wir hatten unfassbares Glück"

Man könne niemals mit dem Erlebten abschließen, findet Michelle Kosian, man könne aber lernen, damit umzugehen, was passiert ist. Es sei ein Teil ihres Lebens, gehöre zu ihrer Geschichte dazu, pflichtet ihr Nina Eigenfeld bei. "Wir hatten einfach unfassbares Glück, das sollten wir auch wertschätzen in unserem alltäglichen Miteinander." Dankbarkeit und Urvertrauen ins Leben - zwei Werte, welche die Schwestern bis heute prägen. Daran versuchen sie sich im Alltag immer wieder zu erinnern.

Insbesondere am 26. Dezember - an diesem Datum kommt die Familie traditionell zum gemeinsamen Essen zusammen, um den "zweiten Geburtstag" zu feiern. Dieses Jahr werden sie alle 20 Jahre alt.

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