Autorin Ronya Othmann: "Wir Jesiden fühlten uns sehr allein"
In ihrem neuen Buch "Vierundsiebzig" setzt sich die Schriftstellerin Ronya Othmann mit dem Genozid an den Jesiden 2014 auseinander. Im Gespräch erzählt sie, wie sie derartige Gewalt literarisch verarbeitet hat.
Es ist eines der fürchterlichsten Verbrechen der jüngsten Geschichte: Ab dem 3. August 2014 verübten Terroristen des IS im Nordirak einen Völkermord an den Jesiden, dem bis zu 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Die Schriftstellerin Ronya Othmann, Tochter eines kurdisch-jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter, versucht in ihrem neuen Roman "Vierundsiebzig" eine Annäherung an den Genozid. Im Literaturhaus Hannover stellte sie im Gespräch mit der Autorin und NDR Kultur-Literaturkritikerin Lisa Kreißler ihr Buch vor. Die fand am 18. April statt - also konnte Ronya Othmanns in dieser Woche publik gewordene Kritik an den Diskussionen in der Jury des Internationalen Literaturpreises hier noch keine Rolle spielen. Einen Auszug lesen Sie hier, die ganze Lesung der Reihe "Der Norden liest" können Sie hören.
Warum hast Du Dich dafür entschieden, die Gewalt so konkret zu beschreiben? Wie schützt Du den Text davor, dass er die Gewalt reproduziert - oder muss er das sogar?
Ronya Othmann: Ein Genozid ist Gewalt. Ich wollte nicht das machen, was man ja manchmal liest: dass die Gewalt ausgespart wird, um gerade damit einen Effekt zu erzielen. Ich habe versucht, das beim Schreiben abzuwägen: wo muss Gewalt erzählt werden? Wo gibt es die Gefahr, dass sie - obwohl alles stimmt - unglaubwürdig wirkt? Aber es ist eben passiert. Menschen haben das getan, und deshalb muss das auch hinein ins Buch.
Du hast offenbar selbst überlegt, gegen den IS zu kämpfen. Wie weit sind die Gedanken gegangen?
Othmann: Die Jesiden waren schutzlos, es ist niemand zu Hilfe geeilt. So eine Terrorgruppe wie den IS kann man nicht anders als militärisch stoppen. Sie mordet. Und wir Jesiden in Deutschland saßen hier und haben zugeschaut. Und die ganze Welt hat zugeschaut. Und dann hat man eben diesen Gedanken. Es sind ja auch tatsächlich Jesiden aus Deutschland dort hingegangen und haben gekämpft. Aber es sind auch IS-Täter von hier aus nach Nordirak ausgereist, um sich an den Verbrechen zu beteiligen.
Welche Reaktionen hier in Deutschland hast Du auf den Genozid erlebt? Hattest Du das Gefühl, die Gesellschaft hat versagt - wie so oft, wenn derart Schreckliches passiert?
Othmann: Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe immer gedacht: Es ist egal, wer man ist. Und eigentlich interessieren mich Fragen der Identität auch nicht besonders. Aber nach dem 3. August fühlten wir uns sehr allein. Viele haben überhaupt zum ersten Mal davon gehört, dass es Jesiden gibt …
… obwohl der größte Teil der Diaspora in Deutschland lebt.
Othmann: Genau. Als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter kamen sie hierher, seit den sechziger Jahren. Es ist eine nicht sehr große, aber heterogene Gemeinschaft, es gibt Jesid*innen aus Armenien, Georgien, aus den kurdischen Gebieten, der Türkei, Syrien, Irak - sehr divers, würde ich sagen. Es war wie so oft: ganz kurz kam das hoch in den Nachrichten, und dann verschwand es wieder. Dann kommen eben die nächsten Kriege und Verbrechen.
Das vollständige Gespräch und ausführliche Lesungspassagen aus Ronya Othmanns Roman können Sie im Sonntagsstudio hören.