NachGedacht: Türkische Zitterpartie
Seit über 20 Jahren ist der türkische Präsident Erdoğan an der Macht. Wird er die Wahlen übermorgen erneut gewinnen? Sein Herausforderer könnte den Thron des ewigen Präsidenten zum Kippen bringen.
Vergangenes Wochenende große Krönungszeremonie in Großbritannien, eine Woche später Schauplatzwechsel: Türkei. Hier wird niemand gekrönt, aber es wird gewählt: Parlament und Präsident. Die große Frage: Wird es Recep Tayyip Erdoğan wieder schaffen? Wohin könnte die türkische Reise - ohne ihn - gehen? Erdoğan weiß um diese Zitterpartie. Was tun Menschen, wenn sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher sind? Alte Faustregel der Küchenpsychologie: Frauen schminken Lippen selbstbewusst in grellen Farben, wenn die wirtschaftliche Lage schwierig ist. In gewisser Weise analog zu Erdogan: Er trägt Fliegerjacke und Sonnenbrille, zeigt sich kämpferisch mit geballter Faust, in jedem Fall mit entschlossener Miene.
Seit über 20 Jahren ist der Staatsmann an der Spitze seines Landes, erst als Premier, später als Präsident. Er hat mit dem Image eines Modernisierers Geschichte geschrieben, das Land, Menschen verändert und das Selbstbewusstsein der religiösen Landbevölkerung gestärkt. Erdoğan versprach Sicherheit, Wohlstand und begann zu bauen: Flughäfen, Schienen, Brücken, Häuser.
Islamisierungskurs und Hyperinflation
Das ist das eine Narrativ. Das andere ist: Säkulare Frauen ärgerten sich über den allmählichen Islamisierungskurs, das Kopftuch war aus den Universitäten verschwunden, jetzt sollte es wieder aufgesetzt werden? Intellektuelle, Schriftstellerinnen, Journalisten, Künstlerinnen, die sich kritisch über Erdoğan und dessen Politik äußern, werden gegängelt oder landen im Gefängnis. Kritik ist nicht erlaubt. Dazu: Hyperinflation. Lebensmittel- und Mietpreise explodieren.
Und dann kam auch noch der 6. Februar 2023. Die Erde bebte, Erdoğans schnell errichtete, oft leichtfertig genehmigte Bauten, die meist nur als potemkinsche Kulisse dem glücklichen Wahlpublikum dienten, fielen in sich zusammen wie zu weich gebackene Tortenstücke. Ein Jahrhundertbeben mit verheerenden Folgen, mit viel zu später Hilfe und vor allem mit viel zu vielen Opfern.
Erdoğans Wiederwahl kein Selbstläufer
Allerspätestens seitdem ist Erdoğans Wiederwahl zum Präsidenten alles andere als ein Selbstläufer. Sein Herausforderer heißt Kemal Kılıçdaroğlu. Was will er? Er will dem Land wieder mehr Demokratie einhauchen, will es weiter fit machen für die EU. Aber er wirbt auch mit dem Versprechen, die vielen Flüchtlinge aus Syrien in ihre Heimat zurückschicken. Dafür ist er bereit, in die Manege zu gehen, um Verhandlungen mit Damaskus aufzunehmen. Mit solchen Vorhaben könnte er bei der türkischen Bevölkerung punkten und Stimmen holen, selbst wenn er international für Unruhe sorgen wird.
Und Erdoğan? Würde er eine Niederlage akzeptieren? 2014 baute er sich einen Prunkpalast, machte sich selbst zum Sonnenkönig. Insignien der Macht, die von heute auf morgen bedeutungslos werden könnten. Kemal Kılıçdaroğlu wird mit dem 1.000-Zimmer Gebäude fremdeln. Im Moment lässt er sich am liebsten für Social-Media-Ansprachen in seiner heimischen Küche filmen.