Wahlen in der Türkei: Was bedeuten sie für Niedersachsen?
Niedersachsen mit türkischem Pass konnten bis Dienstag ihre Stimme für die Wahlen in der Türkei abgeben. Wie wichtig sind sie und was wird der Ausgang der Wahl für uns bedeuten?
Am 14. Mai könnte es bei den richtungsweisenden Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei ein Kopf-an-Kopf Rennen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu geben. Erdogan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht, nun scheint ein Wechsel möglich. Professor Jens Peter Laut vom Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde in Göttingen beantwortet dazu Fragen von NDR.de.
Warum wählen so viele Türken in Deutschland Erdogan und damit eine Politik, die Werte und Rechte in der Türkei infragestellt, die die Menschen hier in Deutschland gern in Anspruch nehmen?
Professor Jens Peter Laut: Die seinerzeitigen türkischen Gastarbeiter entstammten zumeist dem konservativen, frommen und oft bildungsfernen Milieu der anatolischen Dörfer und Kleinstädte. Die Werte des Kemalismus wie Demokratie, Laizismus oder Frauenrechte sind zu ihnen entweder nicht durchgedrungen oder wurden als unangemessen empfunden. In der damaligen kemalistischen Türkei sind diese Menschen oft als rückständig und frömmlerisch belächelt oder bekämpft worden und sie und ihre Nachkommen fühlen sich erst seit Erdogans Machtantritt 2002 ernstgenommen. Dieses neue Selbstbewusstsein ist nicht nur in der Türkei, sondern auch bei vielen Türken in Deutschland zum Tragen gekommen, insbesondere bei den religiös orientierten unter ihnen. Dieser neue Stolz scheint offensichtlich wichtiger für den Lebensvollzug zu sein, als demokratische Rechte und hinzu kommt, dass viele immer noch auf die anfänglichen wirtschaftlichen Erfolge der Erdogan-Regierung verweisen.
Wie wichtig sind die Wählerinnen und Wähler hierzulande (100.000 Wahlberechtigte in NDS, HH und Sachsen-Anhalt) angesichts von insgesamt 64 Millionen wahlberechtigten Menschen in der Türkei?
Laut: Sie sind wichtig als psychologischer Faktor für Erdogan, der mit ihnen ja beweisen möchte, wie sehr sich seine Regierung um die Auslandstürken kümmert.
Wie und was würde sich als erstes in der Türkei verändern, falls Erdogan verlieren sollte?
Laut: Als erstes würden sicherlich die Gefängnisse geöffnet werden und Symbolfiguren wie Osman Kavala freigelassen. Auch die Hochschulen dürften sich alsbald von den aufgezwungenen, oft islamistischen Dekanen etc. verabschieden. Der wirtschaftliche Wiederaufbau und die politische Wiederannäherung an die EU wären aber für die neue Regierung die wohl wichtigsten und schwierigsten Themen.
Was würde sich bei geänderten Machtverhältnissen in der Türkei für Deutschland und Niedersachsen ändern?
Laut: Es würde ein völlig neues geistig-politisch-kulturelles Umfeld beziehungsweise seine Wiederaufnahme entstehen. Das verheerende Türkeibild gerade der letzten Jahre könnte zum Beispiel durch die Wiederbelebung vieler eingestellter Kulturkontakte (Theater, Kunst, Literatur, Musik) neu gestaltet werden. Diese Kontakte waren ja oft schon aus Rücksicht auf die potentielle Gefährdung der türkischen Beteiligten abgebrochen worden. Auch die Zahl von türkischen Uni-Bewerberinnen und Bewerbern dürfte wieder steigen, und gerade auch Fächer wie die Turkologie (in Niedersachsen in Göttingen vorhanden) würden sicher davon profitieren.