Nachgedacht: Nicht die Weiße Rose - aber Geistesgegenwart
Die Demonstrationen dieser Tage waren überwältigend groß. Und sie waren vielfältig, manchen Aktivisten aber nicht divers genug. Ulrich Kühn findet das irreführend.
Beim Hinuntersteigen in den U-Bahnschacht mussten die Menschen am Dienstag in Reihe gehen. Auf der Treppe saß eine Frau, schwer zu sagen, wie alt. Sie war in ein wärmendes Tuch gehüllt, man sah wenig von ihrem Gesicht, eigentlich nur die Brille und ihre tauchenden Augen: eingetaucht in ein Buch, das sie in den Händen hielt. Wie sie auf der Treppe gelandet war? In welcher Geschichte sie dort versank, in welcher Geschichte sie schwebt? Es hätte viel zu fragen gegeben, hätten nicht alle so hasten müssen - zur U-Bahn, man kam ja aus dem Regen und aus dem warmen Daheim. Einem Daheim, wie alle es haben sollten.
Ein notwendiger und wohltuender Akt der Selbstvergewisserung
Vom Zufall gestoßen - der Zufall weiß, wohin er dich stößt -, hatte ich kurz zuvor gelesen, was der Schriftsteller Lion Feuchtwanger in seinem Buch "Der Teufel in Frankreich" erzählt. Er berichtet von seiner zweiten Internierung als politischer Flüchtling durch den französischen Staat im Mai 1940. Das Lager ist ihm durch eine erste Internierung vertraut, und beklemmend sinnt er darüber nach, was passiert, wenn man in relativer Behaglichkeit zu spät wahrhaben will, was einem droht, und darüber, wie man sich noch in übelsten Verhältnissen leichter einrichtet, wenn sie einem schon bekannt sind. Er richtet sich also ein, doch findet sich nicht ab: Da sind seine Schilderungen, wie im Lager alle jedes Schamgefühl verlieren. Da ist sein Zorn, weil man ihn, der stets gegen den Faschismus anschrieb und mit Ehren in Frankreich begrüßt wurde, derart miserabel behandelt. Da ist die Klarheit, mit der er alles beobachtet, sein präziser Blick auf die Menschen. Und da ist die Geistesgegenwart, die ihn später so plastisch von alldem erzählen lässt.
Das braucht es eigentlich immer: Klarheit und Geistesgegenwart. Man sieht dann Parallelen und erkennt Unterschiede. Man kann sich klarmachen: Wir ziehen vielleicht grußlos an einer Obdachlosen im U-Bahnschacht vorbei, wir haben es aber selbst in der Hand, wie tief wir als Bürger und als Land hinabsteigen wollen. Wir brauchen dafür nicht den Mut der Weißen Rose, so viel kostet es noch nicht. Die von vielfältigstem Bürgersinn getragenen riesigen Demonstrationen dieser Tage sind nicht der Charaktertest, den die Großeltern bestanden oder eben nicht, sie sind ein notwendiger und wohltuender Akt der Selbstvergewisserung und der Vorbeugung, um diesen Test nie bestehen zu müssen.
Friedfertiges demokratisches Zusammenleben
Diese Demonstrationen mit ihrem überwältigenden Zuspruch sind aber auch nicht der Ort nachzuzählen, wie viele Menschen welchen Geschlechts oder welcher Hautfarbe auf den Bühnen sprechen, um daraus dann herzuleiten, ob es nun wirklich der große Protest "gegen rechts" gewesen sei. Diese Demonstrationen sind, das haben nicht alle verstehen wollen, der falsche Ort, um konservatives Denken oder konservative Parteien kurzschlüssig-anklagend mit Rechtsradikalismus in eins zu setzen. Ein Aktivismus, der diesem Irrtum erliegt, wird auf viele nur abschreckend wirken und am Ende ruinieren, was da zu blühen begonnen hat. Es wäre ein historischer Fehler.
Das Hinausgehen der Hunderttausende hat eine präzise Funktion. Es setzt lebendig und symbolisch, in aller Eintracht ganz unterschiedlich denkender Menschen, jene "Brandmauer" ins Bild, um die so viel bramarbasiert worden ist. Wer jenseits davon stehend behauptet, ganz allein zu wissen und zu repräsentieren, was angeblich der Wille des einen und reinen Volkes sei, der will keine Demokratie. Wer diesseits steht, will und verteidigt sie. Grün oder konservativ, schwarz oder weiß, darauf kommt es diesseits nicht an: Es geht ums Ganze eines auch künftig friedfertigen demokratischen Zusammenlebens in Wahlfreiheit.
Was das mit der Frau im U-Bahnschacht zu tun hat? Nun, im Rahmen dieser Friedfertigkeit lässt sich in aller Freiheit zum Beispiel über Konzepte für eine Politik streiten, die Wohnungsnot besser lindern könnte. Ist der Rahmen weg, ist es mit der Freiheit vorbei. Darum geht es, in aller Klarheit. Um nichts anderes.
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