Nachgedacht: Nennt ihre Namen!
Warum berühren uns Einzelschicksale mehr als das, was mit einer großen Zahl von Menschen geschieht? Lena Bodewein geht dazu ein Bild nicht mehr aus dem Kopf.
Das hier ist eher ein Nach-Nachgedacht, das gebe ich zu, denn das Bild ist aus der vergangenen Woche, eine Collage, die die Kolleginnen und Kollegen unserer Satiresendung extra3 gepostet haben: Das Tauch-U-Boot Titan mit fünf Menschen an Bord, dazu eine Aufzählung, wer an der Rettungsaktion beteiligt war: kanadische und US-Küstenwachen, US-Marine plus Nationalgarde und ein französisches Meeresforschungsinstitut. Darunter ein Boot voller Flüchtender auf dem Mittelmeer, die Worte: "An der Rettungsaktion beteiligt", dann Doppelpunkt und – Leere.
Was bewegt uns?
Die dramatischen Szenen auf dem Mittelmeerbleiben weitgehend ohne Aufmerksamkeit und Hilfe. Dabei spielen sie sich täglich immer wieder ab: Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Säuglinge, sterben, ertrinken jämmerlich, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Aber wir schauen wie gebannt auf die See vor Neufundland, warten auf Lebenszeichen von Milliardären und Unternehmern, die auf eigenes Risiko und für viel Geld in die Tiefe tauchen, lernen Details über ihre Karrieren, Vorlieben, ihre Träume.
Persönliche Schicksale beschäftigen uns mehr
Warum ist das so? Warum haben diese Fünf eine Geschichte, warum faszinieren uns die Einzelschicksale? Hab ich als Korrespondentin auch gemerkt - beispielsweise bei der Rettung einer thailändischen Jugendfußballmannschaft aus einer Höhle. Alle schauen hin, wollen wissen, wer diese Jungs sind, wer ihr Trainer. Dass das Ganze auch noch gut ausging, umso besser. Aber was ist mit den anderen? Den Geflüchteten aus Myanmar, aus Afghanistan, aus Pakistan, Kongo, Syrien?
Erzählt die Geschichten
Erst, wenn wir ein einzelnes Schicksal sehen, packt es uns am Herzen, wie den kleinen Jungen, der ertrunken an der türkischen Küste liegt. Auf einmal kennen wir sogar seinen Namen: Alan Kurdi. Wir kennen seine Geschichte und die seiner Familie. Plötzlich hat die konturlose Flüchtlingskrise ein Gesicht.
Das muss uns eine Lehre sein, wir müssen gegen das berühmte Zitat anarbeiten: "Ein einzelner Todesfall ist eine Tragödie, eine Million Todesfälle sind eine Statistik.": Erzählt die Geschichten, nennt ihre Namen, holt sie raus aus der Statistik! Das versuchen wir als Berichtende immer wieder: Einzelne Menschen zu porträtieren, ihre Motivation wiederzugeben. So habe ich Menschen aus Myanmar interviewt, die vor Folter, Gefängnis und Unterdrückung nach dem Militärputsch geflohen sind: Ärzte, Journalisten, Studierende. So schaffen wir Verständnis füreinander - jemanden, den ich kenne, von dem ich beispielsweise weiß, warum er etwas so Gefährliches wie eine Flucht übers Meer auf sich genommen hat, den kann ich weniger leicht ablehnen als eine anonyme Masse Geflüchteter.
Namen haben Kraft
Als ich über die Terrorattacke von Christchurch in Neuseeland berichtete - ein Rechtsextremist hatte insgesamt 51 Muslime getötet, hat mich eines besonders beeindruckt: Die Zeitungen, die BBC, die Bevölkerung - alle sprachen von den Toten mit ihren Namen, veröffentlichten Fotos und Lebensgeschichten, vom dreijährigen Mucad bis zu Daoud Nabi, einem Großvater aus Afghanistan, und sie taten das, um sie von dem anonymen Opfersein zu befreien. Der Attentäter hingegen wurde fast nie benannt. Die damalige Premierministerin Jacinda Ardern gelobte, seinen Namen nie zu nennen, auf dass er vergessen werde, keine Macht mehr habe.
Ob es jetzt fünf Menschen in einem Tauchboot sind oder hunderte zusammengepfercht auf einem schrottreifen Schlepperschiff: Erzählt ihre Geschichten, gebt ihnen Gesichter, nennt ihre Namen! Nur bei Arschlöchern gilt: nennt ihre Namen nicht!