Titanic-U-Boot vs. Flüchtlingsboot: Warum bewegen uns Einzelschicksale mehr?
Viele Menschen haben mit dem Schicksal der fünf Menschen im Atlantik gebangt, während viele Katastrophen in weit größeren Dimensionen auf der Welt passieren. Warum ist das so? Ein Gespräch mit dem Psychologen Markus Heldmann.
Tagelang lief die Suche nach dem verschollenen U-Boot mit fünf Menschen an Bord auf Hochtouren. Am Sonntag war das Gefährt eines Privatunternehmens zu einem Tauchgang im Nordatlantik aufgebrochen, um das Wrack der "Titanic" anzusteuern. Kurz nach dem Start war der Kontakt abgebrochen. Lange gab es Hoffnung auf eine Rettung, weil Klopfgeräusche registriert wordenwaren. Inzwischen wurden laut US-Küstenwache Trümmerteile der "Titan" am Meeresboden gefunden. Das Tauchboot sei implodiert und die fünf Insassen offenbar tot. Am 21. Juni sprach NDR Kultur mit dem Psychologen Markus Heldmann darüber, warum uns Einzelschicksale oft mehr berühren als größere Katastrophen.
Herr Heldmann, lassen Sie uns bei dem verschollenen U-Boot im Nordatlantik bleiben: Gehen Sie da auch mit, seitdem dieses Thema in den Nachrichten läuft? Und warum ist das so?
Marcus Heldmann: Ja, ich gehe da auch mit, ich habe aber gleichzeitig - das liegt auch an meinen Forschungsinteressen - die Ambivalenz zu sehen, dass auch viel Unrecht und Leid auf der Welt geschieht und dass wir uns mit manchmal viel weniger finanziellen Mitteln einsetzen, um dieses Leid zu beseitigen. Warum ist das so? Das ist bei uns Menschen leider ein Stück weit so festgelegt - zumindest ist es das, was wir in unserer Forschung beobachten können. Dieses Phänomen, dass wir mit Einzelnen mehr mitgehen als mit einer großen Gruppe - wie zum Beispiel auf den Flüchtlingsbooten, die häufig im Mittelmeer untergehen -, hat etwas damit zu tun, dass wir die Perspektivübernahme für eine Gruppe von Menschen nicht so gut leisten können. Das ist keine Absicht, kein böser Wille.
Sie forschen zum Empathie-Empfinden. Was passiert bei uns im Gehirn, wenn wir hören, dass da fünf Menschen sind, die gerade um ihr Leben fürchten müssen, anstatt hunderte?
Heldmann: Wir haben ein Netzwerk im Gehirn, das bei empathischem Erleben aktiv wird, und dieses Netzwerk ist stärker aktiv, wenn es Einzelne sind, als wenn es eine große Gruppe ist. Man kann sogar von einer Arithmetik des Mitleids sprechen - das Unglück ist aber, dass diese Arithmetik umgekehrt ist - also je weniger das sind, desto mehr können wir mitfühlen und desto eher sind wir auch bereit zu helfen. Wenn es viele sind, dann betrifft uns das nicht so sehr, weil wir uns in diese Gruppe von Personen nicht hineinversetzen können.
Warum ist das so? Alles, was in unserem Gehirn geschieht, hat ja einen Grund für uns Menschen.
Heldmann: Das ist schwierig zu sagen. Es gibt eine evolutionsbiologische Perspektive, dass wir ursprünglich darauf angewiesen sind, dass unser unmittelbares Umfeld gut funktioniert, dass es denen gut geht, und wir entsprechend auch in unserem eigenen Interesse handeln, wenn wir Menschen in unserem Umfeld helfen. Ansonsten kann man noch nicht so richtig etwas zu den Ursachen sagen, sondern eher, welche Hirnareale daran beteiligt sind. Das ist aber ein Phänomen, was in den Sozial- und in den Neurowissenschaften schon über viele Jahrzehnte hinweg beobachtet wird. Man nennt das ein Verblassen oder Kollabieren von Empathie oder von Mitgefühl. Das kennen wir zum Beispiel seit den Genoziden in Ruanda oder dem Krieg auf dem Balkan. Das ist kein neues Phänomen, dazu wird viel geforscht - wir haben aber noch keine gute Erklärung dafür, sondern wir sind eher dabei, die Umgebungsvariablen zu identifizieren, die zu diesem Phänomen beitragen.
Wie forschen Sie denn? Wie sehen Ihre Experimente aus?
Heldmann: Wir machen das so, dass wir zum Beispiel die Person, die wir beobachten möchten, in einen Magnetresonanztomografen legen und ihr dort Nachrichten vorspielen, die genau dieses Phänomen zeigen: dass es etwa um Einzelpersonen geht, wie gerade bei den Menschen, die in dem U-Boot irgendwo in der Nähe der Titanic liegen. Bei einer Gruppe von Menschen sind es viele Schicksale gleichzeitig, die uns weit weniger berühren, als wenn es diese identifizierbaren fünf Personen sind, die jetzt gerade um ihr Leben bangen müssen.
Was können wir aus Ihren Ergebnissen lernen?
Heldmann: Wir können daraus lernen, dass wir dieser moralischen Intuition, die uns quasi eingebaut ist, nicht immer trauen dürfen. Deshalb müssen wir uns als Gesellschaft Mechanismen überlegen, wie wir etwas initialisieren können, dass vielen Menschen hilft und nicht nur einem einzelnen.
Ist es für uns als Gesellschaft ratsam, wenn wir auf Missstände aufmerksam machen wollen, stärker aufs Konkrete zu schauen, konkrete Beispiele zu nehmen, um Umdenkprozesse anzuschieben, weil wir jetzt wissen, dass die Menschen mehr darauf gehen?
Heldmann: Auf jeden Fall. Das macht auch jede gute Crowdfunding- oder Spendenkampagne. Die zeigen ein Bild eines betroffenen Menschen, der bekommt einen Namen, und dann wird gesagt, der oder die ist eine von 500.000 Menschen, die etwas Bestimmtes nicht können. Man sieht dann, dass die Bereitschaft zu helfen größer ist, als wenn man nur sagt, dass es diese große Gruppe von Menschen gibt, der geholfen werden muss.
Das Interview führte Julia Westlake.