Nachgedacht: Nach dem PISA-"Schock" - Schule neu denken
Wann immer jemand das Wort "Schock" in den Mund nimmt, muss ich an die schöne Werbekampagne der Pariser Métro aus den achtziger Jahren denken:
Zu Musik und Bildern, die einem derart den Verstand vernebeln, dass man sich ein Leben abseits einer U-Bahn-Linie schon gar nicht mehr vorstellen mag, singen aufgedrehte Stimmen im Rhythmus einer Zugfahrt vom "schockierend schicken" Métro-Ticket, ticket chic, ticket choc, ticket chic, ticket choc, ticket chic, ticket choc, und so kann's doch gehen: Auf den Flügeln dieser Musik, auf den Gleisen eines Schocks, und sei es ein PISA-Schock, knattern wir frohgemut in eine bessere Zukunft. Man kann die Hoffnung ja auch ausnahmsweise mal nicht verlieren.
Nach der PISA-Studie: Das "blame game" der Politik
Auf einen Schock folgen zunächst Reflexe, so muss das wohl sein. Die Union kritisiert die Bundesregierung und lobt die eigenen Landesregierungen, die Sozialdemokratie fordert - jedenfalls da, wo sie nicht regiert - mehr Geld für die Bildung, und Markus Söder, ein Mann der Tat, verbietet das Gendern an bayerischen Schulen. Auch wollen wir nicht das blitzgescheite Fünftel der Wählerschaft vergessen, das sich nach derzeitigem Stand entscheiden würde für die Partei der organisierten Bildungs- und Menschenfeindlichkeit und überhaupt Feindlichkeit gegen alles, was gut und schön ist (ganz schön langer Name für eine Partei, aber das hat man ja oft, dass die, die am wenigsten zu bieten haben, dafür immer die meisten Buchstaben benötigen, vielleicht sollte sie sich umbenennen in "Alles für Doofe" oder so, dann ließe sie sich entsprechend abkürzen). Was also hat uns der wieder einmal in der Mitte der Gesellschaft angekommene Rechtsextremismus Weiterführendes mitzuteilen? Vor 90 Jahren waren die Juden an allem schuld, heute sind's die Migranten. Diese Sorte menschlicher Dummheit ist mit den Methoden irgendwelcher Studien gar nicht zu ermitteln, da explodieren alle Messgeräte.
Und nun? Wenn das "blame game" vorbei ist, können wir alle ja mal versuchen, Schule ganz neu zu denken. Das wird im Rahmen einer kleinen Kolumne nicht sehr ausgefeilt geschehen können, aber eines steht doch fest: Wenn die Menschheit bislang aus Versehen vergessen hätte, so etwas wie Schule zu erfinden, und das jetzt endlich nachholen wollte, würde sie doch auf keinen Fall so erdacht und gebaut werden, wie wir sie heute kennen, als Verwahranstalt mit dem Zweck, ihre Insassen einzuhegen und zu sortieren. In keinster Weise berücksichtigt unser heutiges Schulsystem die Erkenntnisse von Psychologie und Pädagogik über die Einzigartigkeit der Entwicklung jedes einzelnen Menschenkindes. Mit unserem unterkomplexen Leistungsbegriff - immer darauf ausgerichtet, mit Zensuren Druck auszuüben, statt mit Inhalten Eindruck zu machen - erzeugen wir nur Lustlosigkeit, Angst, Depression.
Freiheit und Zeit für die Bedürfnisse und Talente
Wir können auch anders, wir sind doch nicht doof! Die Menschen haben das Rad, den Knoten, die Differenzialrechnung und den Fußball von Bayer Leverkusen erfunden, da wird es doch wohl möglich sein, sich eine neue Schule zu überlegen. Sie würde nicht irgendwelchen undifferenzierten Lehrplänen folgen, sondern danach streben, die Heranwachsenden zu freien, selbstbestimmten, fröhlichen Menschen auszubilden. Leiterinnen und Leiter unterschiedlichster Schulen, ob Gymnasium oder Brennpunktschule, sagen: Mehr Geld wäre schon gut, na klar, aber das Wichtigste ist: Freiheit von einheitlichen Vorgaben und damit viel mehr Zeit für die Bedürfnisse und Talente des je einzelnen Menschen.
Freiheit und Zeit fügen sich zu einem schönen Gesang: schickeschul, schickerschock, schickeschul, schickerschock …
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