Nachgedacht: Die Katastrophe fällt aus
Wir sind live dabei, wie aus Gegenwart Geschichte wird. Rechtsextreme gewinnen Wahlen in Deutschland. Und dennoch - es gibt Ermutigung, meint Alexander Solloch.
Am Sonntag war ich mit einer älteren Dame aus Israel zum Interview verabredet. Mit Anfang 20 war sie zum Studieren nach Europa gegangen, verliebte sich in einen Deutschen - und blieb in Frankfurt, bis heute. "Warum Deutschland? Wie kannst du da leben?", wurde sie in ihrer Heimat gefragt. Sie antwortete: "Ich kenne keine andere Nation, die so klar und unbeirrt den Versuch unternommen hat, das, was sie Fürchterliches getan hatte, zu begreifen und aufzuarbeiten." Mit ihr war ich verabredet, am Sonntag, wenige Stunden vor der Bekanntgabe der Wahlergebnisse.
Am Montag nach den Wahlen hat die Buchhändlerin um die Ecke entgegen ihrer Gewohnheit keine Neuerscheinung ins Schaufenster gestellt, sondern einen Klassiker der Geschichtsschreibung: "Weimar" von Heinrich August Winkler. Vielleicht mal wieder lesenswert, sowieso und auch in dieser Lage.
Rhetorik verengt sich aufs Thema Asyl und Abschiebung
Wie ist sie denn, die Lage? Sie ist so, dass es in Thüringen knapp 400.000 Menschen und in Sachsen weit mehr als 700.000 Menschen für gut hielten, die Partei der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu wählen. Das ist das eine. Dann aber ist die Lage auch so, dass Wahlsiege von Rechtsextremen die demokratischen Parteien nun wiederum nicht dazu verleiten, all den Menschen volle Solidarität zu bekunden und Hilfe zu versprechen, die sich nun leibhaftig fürchten, auch nicht den couragierten Initiativen, die sich für den Erhalt von Demokratie und Menschenfreundlichkeit einsetzen, etwa der Flüchtlingsrat Thüringen oder die Aktion Zivilcourage in Pirna. Stattdessen verengt man alle Rhetorik und Politik aufs Thema Asyl und Abschiebung und bläst damit ein reales Problem zum gigantischen Weltendrama auf, das nur noch radikal gelöst werden kann. Folglich: 40 Prozent für Höcke in vier Jahren. Vielleicht reicht's dann schon für eine absolute Mehrheit im Parlament, vielleicht auch erst in acht Jahren. Der Faschismus hat Zeit.
Katastrophen ereignen sich, wenn Menschen keine Lust haben, sie zu vermeiden
Die Lage ist so, dass an den sittenwidrigen Mieten, dem Lehrermangel, der kaputt gesparten Verkehrsinfrastruktur, dem maroden Gesundheitssystem und dem unbekämpft bleibenden Klimawandel zwar nicht Syrer und Afghanen schuld sind, auch übrigens nicht Arbeitslose und Bürgergeldempfänger, man sie aber, wenn es sie nicht gäbe, erfinden müsste, um von den großen Problemen abzulenken.
Die Lage ist so, dass eine unter akutem Selbsthass leidende Bundesregierung an jeder Lebensrealität vorbei noch ein weiteres Jahr herumstümpern möchte. Unvermutet schenkte das Wahlergebnis den drei Parteien 2021 eine gewaltige Chance; wie sie sie verschleudert haben, wird noch lange als unverzeihlich angesehen werden. Die Folgen kann man als interessierter Zeitgenosse dann nachlesen in jenem Buch, das in 50 oder 100 Jahren ins Schaufenster gestellt werden wird: "Erfurt".
Auch Friedrich Merz und Markus Söder und ihre Leute streben es gerade sehr beflissen an, darin entscheidende Rollen zu spielen. Geschichte wiederholt sich natürlich nicht. Sie verläuft jedoch nach dem Gesetz, dass Katastrophen sich ereignen, wenn Menschen keine Lust haben, sie zu vermeiden.
"Ein Hund beißt auch im Sterben"
Aber halt, aber stopp! Diesmal fällt die Katastrophe aus. Man wird die, die ein offenes Land wollen und Offenheit verkörpern, nicht los. Den Schriftsteller Tijan Sila, der - vor 30 Jahren dem Krieg in Sarajevo knapp entkommen - viel Schlimmeres erlebt hat als das, was einem blassgesichtigen Literaturredakteur schon Panikattacken verursacht, durchzuckte neulich, als er durch den Düsseldorfer Hauptbahnhof ging und ein Gemurmel, Gequatsche, Geschrei von ungefähr 200 Sprachen vernahm, der Gedanke: Das ist die Realität! Das geht nicht mehr weg. Das bleibt. "Es gibt kein Zurück", schreibt Tijan Sila: "Das multikulturelle, maximal vielfältige Deutschland blüht. Dieses Deutschland ist die Zukunft." Ist denn aber die AfD nicht gefährlich? "Klar", antwortet Sila: "Ein Hund beißt auch im Sterben."
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