Nachgedacht: Augmented-Reality-Show in Bayreuth
Bayreuth arbeitet immer mit Superlativen, heißt: In dieser Woche wurden die Festspiele eröffnet, also wird der Superlativ auf dem Grünen Hügel gefeiert. "Augmented Reality" lautet das Etikett, mit dem Bayreuth in diesem Jahr die Zukunft ansteuert.
Wer Wagner mag, muss hin nach Bayreuth, muss alle Anstrengungen und Hindernisse auf sich nehmen: beschwerliche Anfahrt, sommerliche Hitzetemperaturen, neben Prunk und Pomp viel Unbequemes. Immer, wenn ich an Bayreuth denke, fällt mir ein Text von Haruki Murakami ein. Den musik- und märchenaffinen Schriftsteller aus Japan lockte seinerzeit, 2019, eine Reportage für die "Zeit" nach Bayreuth: "Die Sonne knallt derart, dass ich das Gefühl habe, gegrillt zu werden." Gegen den Durst trinkt Murakami Bier, isst Currywurst mit einem Berg Pommes Frites. Und er läuft. Laufen ist für den Marathon-Fan immer ein bewährtes Rezept für vieles, auch um sich vorzubereiten, nicht nur auf Wagner, auch auf das Sitzen.
Der Trost: Immer Neues in Bayreuth
Das Sitzen in Bayreuth ist sagenumwoben. Fast 2.000 Menschen können im Konzerthaus Platz nehmen auf unbequemen, mager gepolsterten Sitzen. Klimaanlage: Fehlanzeige. Die Reihen sind eng. Wenn man sitzt, sitzt man - aufstehen ausgeschlossen. Um dieses Setting in bodenlangem Kleid oder Smoking ertragen, erleiden zu können, muss Bayreuth also immer etwas wirklich Sensationelles bieten. Ganz im Sinne Wagners, der nicht stecken bleiben wollte in der Tradition: "Kinder! Macht Neues!" Ein Imperativ, der der Nachfolge Wagners und der Zukunft in Bayreuth gelten sollte.
Filmregisseure wie Werner Herzog nahmen das ernst, griffen für ihre Bayreuth-Inszenierungen zu dem, was sie konnten - Herzog also zum Film. Seinen "Lohengrin" 1987 unterlegte er mit filmischen Elementen, machte den Schwanenritter zur Lichtgestalt und für sich "nachvollziehbar". Christoph Schlingensief garnierte "Parsifal" ebenfalls mit visuellen Reizen, jagte Klingsor mit Rakete zum Mond - der Gag in Bayreuth 2004.
Mit Augmented Reality dehnt sich Wagners Konzerthaus aus
Nun, an diesem Dienstag: Eröffnung der diesjährigen Bayreuther Festspiele, auch mit "Parsifal". Und mit einer Brille, die schon im Vorfeld für Turbulenzen im Feuilleton sorgte. Regisseur Jay Scheib, Professor am Bostoner MIT und Technik-Freak, inszeniert "Parsifal" 2023 mit "AR" - mit "Augmented Reality". Wer eine der 330 Brillen ergattert, sieht in Bayreuth mehr. Heißt: erweitert seine Wahrnehmung, erlebt "Parsifal" plastisch, sieht Schwanenblut vom Himmel tropfen, umherschwirrende Riesenmücken oder Blumen und Pflanzen im Zaubergarten erblühen. Bei Jay Scheib geht Wagners Konzerthaus mit AR in die Breite, in die Höhe, in die Tiefe.
Zurück zu Haruki Murakami. Er konnte 2019 - Wagner war noch nicht im KI-Zeitalter angekommen - in seinem Bayreuth-Tagebuch auch etwas zum Thema Brille notieren. Gut vorbereitet, Text gelesen, DVD geschaut, Musik gehört, lässt er sich auf seinem Platz nieder. Vor ihm sitzt ein Mensch, ein großer Mensch, ein "Hüne", wie er schreibt, der ihm die Sicht auf die Bühne verdeckt. Dann, noch schlimmer, merkt er: Er hat seine Brille im Hotel vergessen. Um die ganze Welt nach Bayreuth gereist, dann passiert ihm so ein Fehler. Immerhin: Er hat seine Sonnenbrille dabei. Er hört, erlebt den "Lohengrin" abgedunkelt, unscharf, schemenhaft. Und für Murakami, Autor von metaphern- und mythengetränkten Büchern wie "Die Ermordung des Commendatore", entwickelt sich in Bayreuth alles genau richtig: Murakami ergibt sich seiner Situation, hört, spürt und lässt sich vor allem auf die Musik ein. Und ist überwältigt vom Klang, Gesang, vom Wahn. "Wahn" steht für Bayreuth, gerne also auch mit dem Superlativ 2023: Augmented Reality.