Claudia Christophersen © NDR Foto: Christian Spielmann
Claudia Christophersen © NDR Foto: Christian Spielmann
Claudia Christophersen © NDR Foto: Christian Spielmann
AUDIO: "Ach, Europa!" - Habermas und die europäische Idee (4 Min)

Nachgedacht: "Ach, Europa!" - Habermas und die europäische Idee

Stand: 13.06.2024 16:10 Uhr

Europa hat gewählt und Rechtspopulisten haben mit großem Stimmenzuwachs abgeschnitten. Hat Europa noch eine Zukunft? Jemand, der sich mit dieser Frage über Jahrzehnte beschäftigt hat, ist Jürgen Habermas. Er wird von den Ergebnissen alles andere als begeistert sein.

von Claudia Christophersen

Jürgen Habermas ist mit vielen Superlativen beschrieben: der bekannteste, der wirkmächtigste, der mutigste, der provokanteste, der eigenständigste Denker der deutschen Gegenwart. Seine Bücher sind mit endlosen Fußnotenapparaten versehen, oft viele hundert Seiten dick, nicht ganz leicht zu lesen, ja: im wahrsten Sinne des Wortes schwer. Dass aber seine Wälzer "Strukturwandel der Öffentlichkeit" oder "Theorie des kommunikativen Handelns" mitunter Mühe bereiten, soll die fundierte Debatte über seine Gedanken nicht verhindern. Genau das nämlich möchte Habermas: nicht raunen, nicht quatschen, sondern lesen, denken, abwägen, sprechen, Debatten anregen, Diskurse kontrovers, kritisch und durchaus auch ergebnisorientiert zum Schwingen bringen.

Jürgen Habermas wollte das von Anfang an. Jahrgang 1929, wurde er gerade 20, als 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet, das Grundgesetz verabschiedet wurde. Und immer im Hintergrund der Sound einer irgendwie und unbedingt notwendigen Form des Neuanfangs. Wie sollte ein Land, eine Gesellschaft weiterleben nach dem katastrophalen Zivilisationsbruch, nach dem Holocaust?

Die Bundesrepublik und Europa

Dass Kontinuitäten weiterliefen, wurde Habermas allerspätestens klar, als der Philosoph Martin Heidegger 1953 seine Metaphysik-Vorlesung, die er 1935 gehalten hatte, ohne gedankliche Revision in den Druck gab. Sollte hier braunes Denken klammheimlich an die Gegenwart angedockt werden? Habermas war sensibel geeicht auf fragwürdige, destruktive Entwicklungen. In den 1980er-Jahren hat er die wohl wichtigste gesellschaftliche Debatte der alten Bundesrepublik mobilisiert, als der Historiker Ernst Nolte die Frage stellte, ob die nationalsozialistischen Verbrechen in einen Zusammenhang mit den Verbrechen Stalins gebracht werden könnten. Für Habermas ein No-Go, Auschwitz sei ein nicht vergleichbares, nicht relativierbares Menschheitsverbrechen. Der Historikerstreit war für Habermas ein klares Indiz dafür, dass sich die Bundesrepublik nur im Rahmen Europas etablieren kann.

Europa - das Projekt, gefüllt mit freiheitlicher Vielfalt und utopischem Potential. Gerade Habermas war euphorisiert von der leidenschaftlichen Idee, dass Europa in seinen Differenzen, Eigenheiten, aber eben auch mit seinen integrativen Kräften etwas bewegen kann: im Gespräch, im Dialog, in der Interaktion, mit guten Argumenten - obgleich er das technokratische Europa mit Glühbirnenverordnung oder anderen durchaus ambivalenten Bestimmungen nie bewunderte oder forcierte.

Weitere Informationen
Eine Frau wirft in einem Wahllokal ihren Wahlzettel für die Europawahl ein. © dpa Foto: Sebastian Christoph Gollnow

Europawahl 2024: Alle Infos für den Norden

Europa hat gewählt. In Deutschland waren 65 Millionen Menschen wahlberechtigt. Hier finden Sie alle Infos und Hintergründe. mehr

Gut gemeint, aber nicht nah genug dran an den Menschen

Hat Europa sich zu viel Kleinteiligkeit zugemutet und die großen Herausforderungen wie Globalisierung, Migration oder Integration nicht ernst genug genommen? "Ach, Europa!" seufzt der Fürsprecher des Kontinents in einer kleinen politischen Schrift von 2008, die zugleich eine Replik ist auf Hans Magnus Enzensberger. Habermas wie Enzensberger haben Bedenken und viele Fragen, die das großangelegte Projekt flankieren: Vieles gut gemeint, aber nicht nah genug dran an den Menschen, ihren Vorstellungen von Lebenswirklichkeit. Vom "Europa der Wünsche" sprach Enzensberger Ende der 1980er-Jahre, als er "Wahrnehmungen aus sieben Ländern" zusammentrug. Er wusste, was los ist in Schweden, Norwegen oder Portugal. Mit Jürgen Habermas hat er Defizite, Fragilität, Brüchigkeit jahrelang melancholisch registriert.

In diesen Junitagen 2024 hat sich einiges davon manifestiert. Nicht nur in Frankreich, Italien, auch in Deutschland haben rechte Parteien stärkenden Rückenwind mit erschreckend hohen Wahlergebnissen bekommen. Jürgen Habermas, der an dem Projekt Europa immer festgehalten hat, wird das sehr besorgen und sicher nicht nur zu einem sanften Seufzer wie "Ach" provozieren.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Weitere Informationen
Jürgen Habermas © picture-alliance/dpa/MAXPPP Foto: Riccardo De Luca

Die Luhmann-Habermas Kontroverse

Als Niklas Luhmann Ende der 60er-Jahre in Frankfurt am Main den Soziologen Theodor W. Adorno vertritt, lernt er auch Jürgen Habermas und mit ihm seinen größten Kritiker kennen. mehr

Daniel Günther (Ministerpräsident von Schleswig-Holstein) spricht beim CDU-Bundesparteitag vor einem blauen Aufsteller. © dpa Bildfunk Foto: Carsten Koall

Nach Europawahl: Günther fordert Miteinander gegen AfD

Niedersachsens SPD bezeichnete die Ergebnisse als "Weckruf für die Bundesebene" und äußerte Kritik am Auftreten der Ampel unter Kanzler Scholz. mehr

Ein Mädchen sitzt beim Schulprojekt "Juniorwahl" in einer Wahlkabine. © IMAGO / Funke Foto Services

Europawahl: Warum die AfD bei Jungwählern besonders punkten konnte

Experten machen für den Erfolg beispielsweise den "Dauerkrisenmodus" und eine starke Präsenz in sozialen Medien verantwortlich. Aus diesen Gründen punktete auch Volt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 14.06.2024 | 10:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Europa-Politik

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur Livestream

ARD Nachtkonzert

00:00 - 06:00 Uhr
Live hörenTitelliste