Nachgedacht: "Ach, Europa!" - Habermas und die europäische Idee
Europa hat gewählt und Rechtspopulisten haben mit großem Stimmenzuwachs abgeschnitten. Hat Europa noch eine Zukunft? Jemand, der sich mit dieser Frage über Jahrzehnte beschäftigt hat, ist Jürgen Habermas. Er wird von den Ergebnissen alles andere als begeistert sein.
Jürgen Habermas ist mit vielen Superlativen beschrieben: der bekannteste, der wirkmächtigste, der mutigste, der provokanteste, der eigenständigste Denker der deutschen Gegenwart. Seine Bücher sind mit endlosen Fußnotenapparaten versehen, oft viele hundert Seiten dick, nicht ganz leicht zu lesen, ja: im wahrsten Sinne des Wortes schwer. Dass aber seine Wälzer "Strukturwandel der Öffentlichkeit" oder "Theorie des kommunikativen Handelns" mitunter Mühe bereiten, soll die fundierte Debatte über seine Gedanken nicht verhindern. Genau das nämlich möchte Habermas: nicht raunen, nicht quatschen, sondern lesen, denken, abwägen, sprechen, Debatten anregen, Diskurse kontrovers, kritisch und durchaus auch ergebnisorientiert zum Schwingen bringen.
Jürgen Habermas wollte das von Anfang an. Jahrgang 1929, wurde er gerade 20, als 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet, das Grundgesetz verabschiedet wurde. Und immer im Hintergrund der Sound einer irgendwie und unbedingt notwendigen Form des Neuanfangs. Wie sollte ein Land, eine Gesellschaft weiterleben nach dem katastrophalen Zivilisationsbruch, nach dem Holocaust?
Die Bundesrepublik und Europa
Dass Kontinuitäten weiterliefen, wurde Habermas allerspätestens klar, als der Philosoph Martin Heidegger 1953 seine Metaphysik-Vorlesung, die er 1935 gehalten hatte, ohne gedankliche Revision in den Druck gab. Sollte hier braunes Denken klammheimlich an die Gegenwart angedockt werden? Habermas war sensibel geeicht auf fragwürdige, destruktive Entwicklungen. In den 1980er-Jahren hat er die wohl wichtigste gesellschaftliche Debatte der alten Bundesrepublik mobilisiert, als der Historiker Ernst Nolte die Frage stellte, ob die nationalsozialistischen Verbrechen in einen Zusammenhang mit den Verbrechen Stalins gebracht werden könnten. Für Habermas ein No-Go, Auschwitz sei ein nicht vergleichbares, nicht relativierbares Menschheitsverbrechen. Der Historikerstreit war für Habermas ein klares Indiz dafür, dass sich die Bundesrepublik nur im Rahmen Europas etablieren kann.
Europa - das Projekt, gefüllt mit freiheitlicher Vielfalt und utopischem Potential. Gerade Habermas war euphorisiert von der leidenschaftlichen Idee, dass Europa in seinen Differenzen, Eigenheiten, aber eben auch mit seinen integrativen Kräften etwas bewegen kann: im Gespräch, im Dialog, in der Interaktion, mit guten Argumenten - obgleich er das technokratische Europa mit Glühbirnenverordnung oder anderen durchaus ambivalenten Bestimmungen nie bewunderte oder forcierte.
Gut gemeint, aber nicht nah genug dran an den Menschen
Hat Europa sich zu viel Kleinteiligkeit zugemutet und die großen Herausforderungen wie Globalisierung, Migration oder Integration nicht ernst genug genommen? "Ach, Europa!" seufzt der Fürsprecher des Kontinents in einer kleinen politischen Schrift von 2008, die zugleich eine Replik ist auf Hans Magnus Enzensberger. Habermas wie Enzensberger haben Bedenken und viele Fragen, die das großangelegte Projekt flankieren: Vieles gut gemeint, aber nicht nah genug dran an den Menschen, ihren Vorstellungen von Lebenswirklichkeit. Vom "Europa der Wünsche" sprach Enzensberger Ende der 1980er-Jahre, als er "Wahrnehmungen aus sieben Ländern" zusammentrug. Er wusste, was los ist in Schweden, Norwegen oder Portugal. Mit Jürgen Habermas hat er Defizite, Fragilität, Brüchigkeit jahrelang melancholisch registriert.
In diesen Junitagen 2024 hat sich einiges davon manifestiert. Nicht nur in Frankreich, Italien, auch in Deutschland haben rechte Parteien stärkenden Rückenwind mit erschreckend hohen Wahlergebnissen bekommen. Jürgen Habermas, der an dem Projekt Europa immer festgehalten hat, wird das sehr besorgen und sicher nicht nur zu einem sanften Seufzer wie "Ach" provozieren.
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