Lena Bodewein © Lena Bodewein

NachGedacht: Über Gewalt gegen Politiker und die wehrhafte Demokratie

Stand: 10.05.2024 06:00 Uhr

Beschmierte Wahlplakate, gewalttätige Angriffe auf Politiker: Die Geschehnisse der vergangenen Tage geben Anlass zu sehr gegensätzlichen Gefühlen, meint Kolumnistin Lena Bodewein

von Lena Bodewein

Ich habe Angst. Angst in einer Gesellschaft zu leben, in der brutale, extreme, gewaltbereite Charakterschweine einen Großteil der Mitmenschen terrorisieren. Denn genau das passiert gerade: Es ist Terror, Schrecken, der sich verbreitet - weil nahezu täglich neue Gewalttaten geschehen.

Es trifft Spitzenkandidatinnen, Wahlhelfer, Senatorinnen; sie werden geschlagen, verprügelt, angespuckt und bedroht, bekommen Hundekot in den Briefkasten geworfen, erhalten mit Hakenkreuzen beschmierte Drohbriefe, Scheiben von Parteibüros werden eingeschmissen. Das geschieht jetzt und nicht in den 1930er Jahren! Wir erinnern uns wohl alle noch, dass eines Frühsommerabends vor nicht allzu langer Zeit ein Regierungspräsident auf seiner Veranda umgebracht wurde. Knapp vier Jahre ist es jetzt her, dass ein Rechtsextremist Walter Lübcke erschoss. Einen Politiker, der eine Unterkunft für Flüchtlinge verteidigt hat - eine Unterbringung für Menschen, die vor Gewalt in ihrer Heimat geflohen sind.

Einzelfall oder Normalität

Während wir damals immer noch sagten: ein Einzelfall, so extrem, das ist nicht normal, ist Gewalt fürchterliche Normalität geworden. Das war sie aber schon vorher - wie die Angehörigen der NSU-Opfer erzählen könnten oder diejenigen, die in Asylbewerberunterkünften vor Brandanschlägen zittern.

Toll, dass die Innenministerinnen und Innenminister in Deutschland auf die Gewalt gegen politisch Aktive so schnell reagiert haben - aber hätte das nicht schon viel früher passieren müssen? Rettungshelfer werden angegriffen oder sogar in Hinterhalte gelockt, Polizistinnen und Polizisten sind schon lange und immer wieder und jetzt vermehrt Ziel von Attacken, Lehrende erleben wachsende Gewalt an Schulen und nun trifft es eben oft ehrenamtliche Wahlhelfer. Das kann doch nicht sein! Menschen, die sich engagieren, die mehr tun als nur ihr ganz eigenes kleines Leben zu führen, sondern die etwas bewirken wollen im Leben anderer - die machen sich damit zu Zielscheiben. Zielscheiben in einem furchterregenden Klima des Hasses und der Gewaltbereitschaft, gegenüber allen, die engagiert sind, die helfen, die etwas für eine Gesellschaft tun.

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Gewalt als erstes Mittel?

Gewalt gilt, wenn überhaupt, als letztes Mittel. Für erschreckend viele Menschen aber scheint es das erste Mittel zu sein: Sie schlagen zu, bevor sie argumentieren - weil sie selbst Argumenten gegenüber gar nicht aufgeschlossen sind! Ich verstehe das nicht. Die Tatverdächtigen, oder zumindest einer von denen, die den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke ins Krankenhaus geprügelt haben, sollen Mitglieder einer rechtsradikalen Vereinigung namens "Elblandrevolte" sein. Revolte? Wogegen? Warum?

Wenn die jungen Menschen in Myanmar gegen eine Junta revoltieren, die sie unterdrückt, die ihnen die Freiheit und die Demokratie nimmt, die rechtmäßig gewählte Führerinnen und Politiker unter hanebüchenen Vorwänden einsperrt, dann verstehe ich das. Dagegen muss man aufbegehren - wenn man mutig genug ist. Denn wer von der Junta erwischt wird, riskiert, gefoltert und bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. Und trotzdem gehen die Menschen in Myanmar dieses Risiko ein, seit mehr als drei Jahren. Weil ihre Revolte für Demokratie kämpft, eine bessere Gesellschaft erreichen will.

Hoffnung auf wehrhafte Demokratie

Aber hier? Was wollen diese Aufständischen? Wir HABEN eine Demokratie, eine freiheitliche Grundordnung. Jeder, der meint, das tun zu müssen, kann seine Meinung frei äußern oder sich politisch engagieren, wenn er nicht die Verfassung verletzt. Welchen Umsturz wollen die also erreichen, was für eine Gesellschaft soll das werden, in der es entweder nur extreme Dreckskerle gibt oder eingeschüchterte Opfer? Das hatten wir schon mal, war richtig scheiße und sehr, sehr braun. 

In dieser Woche haben wir den Tag der Befreiung begangen. Der 8. Mai 1945 war das Ende einer Diktatur, einer Schreckensherrschaft, einer allerdunkelsten Zeit. Danach bekam Deutschland eine zweite Chance, ein Grundgesetz und eine wehrhafte Demokratie. So heißt es immer, wehrhafte Demokratie. Ich habe Angst. Aber ich habe auch Hoffnung. Ich hoffe, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der das nicht nur eine leere Worthülse ist.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 10.05.2024 | 10:20 Uhr

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