NachGedacht: Die Brillanz des Individuums und die chancenlose Masse
An diesem Freitag wird bekannt, wer den Friedensnobelpreis bekommen soll. Das kann in heutigen Zeiten eine große Wirkung haben, hofft Lena Bodewein in ihrer Kolumne.
Tja, die Nobelpreiswoche. Jeden Tag ein anderer Bereich. Ich kann mich ausführlich darüber empören, dass in den Wissenschaftskategorien wieder mal nur weiße, westliche Männer ausgezeichnet wurden. Mach ich jetzt aber nicht. Oder darüber reflektieren, dass einer der Ausgezeichneten, einer der Urväter der Künstlichen Intelligenz, auch einer der größten Mahner ist und nach der Preisbekanntgabe sagte: "Wir haben keine Erfahrung damit, wie es ist, wenn Dinge intelligenter sind als wir." Mach ich aber jetzt auch nicht.
Sondern ich schaue auf die Tatsache, dass einzelne, brillante Köpfe exzellente Dinge vollbringen könnten und wir sie dafür feiern. Und ich möchte das in Gegensatz stellen zum anderen wichtigen Ereignis der Woche: den Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel und die bestialische Ermordung von 1.200 Menschen. Seitdem steigen die Opferzahlen in diesem Konflikt auf beiden Seiten Tag für Tag, und aus vielen Individuen mit Ideen, Lieben, Talenten, wird das: Zahlen. Ohne Geschichte, ohne die Chance, all diese Ideen, Lieben und Talente ausleben zu können, vielleicht eines Tages selbst für etwas ausgezeichnet zu werden.
Eine einzige anonyme Zahl
Vor etwa zwanzig Jahren besuchte ich St. Petersburg; wir standen auf dem Gedenkfriedhof Piskarjowskoje. Dort liegt in Massengräbern eine halbe Million Menschen, die bei der Leningrader Blockade ums Leben kamen. Fast neunhundert Tage lang wurde die Stadt ab September 1941 von der deutschen Wehrmacht belagert, von der Außenwelt und damit von der Versorgung abgeschnitten. Strategisch gedacht, um die Stadt zu erobern. 470.000 Zivilisten, darunter etliche Kinder, und 50.000 Soldaten starben, verhungerten und verdursteten. Die Grabplatten tragen nur die Jahre der Bestattung, die Namen der Toten sind verloren.
Ich wusste, dass Dmitri Schostakowitsch seine 7. Sinfonie für seine Heimatstadt während der Blockade geschrieben hat, sie wurde sogar während der Belagerung von einem entkräfteten Orchester in der blockierten Stadt aufgeführt. Aber trotzdem: Das Genie eines Mannes, Schostakowitsch, und dagegen eine halbe Million toter Menschen in Massengräbern. Eine einzige anonyme Zahl.
Genies und Talente unter Grabplatten?
Am selben Tag besuchten wir die Eremitage in St. Petersburg. Hier, in einem der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt, finden sich Millionen von Ausstellungsstücken, eine riesige Sammlung europäischer bildender Kunst, und ich war erschlagen von den Meisterwerken, die ich in Raum an Raum an Raum sah: von Da Vinci bis Kandinsky, von Rubens bis Picasso.
Das hat mich fertig gemacht, dieser Gegensatz, diese Brillanz, diese Meisterwerke einzelner Menschen, dagegen diese riesige Zahl von einer halben Million, anonym, nicht nur ihres Namens, sondern ihres Lebens und jeglicher Chancen beraubt: Wer weiß, welche Künstlertalente unter ihnen waren, wissenschaftliche Genies, Menschen mit Forschergeist, mit heilenden Gaben, mit einer Vision?
Traum von friedensstiftenden Visionen
Eine Vision, wie Bertha von Suttner sie beispielsweise hatte: Pazifistin, Friedensnobelpreisträgerin 1905, erste Frau, die mit diesem Preis ausgezeichnet wurde - und wohl auch diejenige, die Alfred Nobel anregte, sein Vermögen nutzstiftend im Sinne der Menschheit und des Friedens anzulegen. So werden alljährlich mit den Zinsen des Kapitals Preise verliehen - ein Fünftel davon so, wie es in Nobels Testament steht: "an denjenigen, der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat."
Also träume ich davon, dass es einem oder einer Einzelnen gelingt, mit einer friedensstiftenden Vision zu erreichen, dass Hunderttausende andere auch eine Chance bekommen: brillant zu sein, zu forschen, zu leben.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie diese Kolumne geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sie sich bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.