Antisemitismus: Muslime unter Generalverdacht
Ich bin Muslimin - und schon allein deswegen eine potentielle Judenhasserin. Das ist, überspitzt formuliert, die Quintessenz der derzeitigen Debatten hierzulande. Muslime sind per se antisemitisch: So denken nicht etwa nur AfD-Politiker, sondern auch etliche Otto-Normal-Bürger. Viel zu viele Menschen orientieren sich bei ihrer Meinungsbildung an gefühlten Wahrheiten und an Vorfällen, durch die sie sich in ihren Ansichten bestätigt sehen. Solch einen Anlass bot jüngst eine Demonstration in Berlin. Muslime verbrannten am Brandenburger Tor Israel-Fahnen, begleitet von antisemitischen Parolen.
Seit dem Zuzug von Flüchtlingen wird die Diskussion von einem weiteren Bedrohungsszenario angeheizt: importierter Antisemitismus aus muslimischen Ländern. Kaum spreche ich diese Sätze, höre ich auch schon die Stimmen meiner Kritiker. Ich sei naiv, ignorierte das Problem und redete den Antisemitismus unter Muslimen klein, um meine Glaubensschwestern und -brüder in Schutz zu nehmen.
Nein, das mache ich keineswegs! Ich sage nicht, dass Muslime keine Antisemiten sind - genauso wenig, dass die Feindschaft gegenüber Juden unter Muslimen nur eine Marginalie ist. Nochmal in aller Deutlichkeit, um nicht missverstanden zu werden: Ja! Es es gibt Muslime, die antisemitisch sind. Das bekomme ich des Öfteren direkt mit. Wogegen ich mich aber verwehre: Muslim und Antisemit gleichzusetzen. Das nämlich wird, so meine Befürchtung, hierzulande immer mehr zum Common Sense.
Vorschnelle Urteile und zweifelhafte Lösungen
Sogar Menschen, die es besser wissen könnten, verweigern sich einer differenzierten Betrachtung. Statt sich historische Zusammenhänge zu erschließen und empirische Befunde einzubeziehen, kommen sie vorschnell zu dem Urteil: Der Antisemitismus unter Muslimen wächst und ist so gefährlich, dass dringend Handlungsbedarf besteht. Die einen Politiker meinen, das Problem loswerden zu können, indem sie all jene Geflüchteten abschieben, die sich antisemitisch äußern und handeln; andere Politiker wiederum sehen eine Lösung darin, einen Antisemitismusbeauftragten einzusetzen - wie in der vergangenen Woche im Bundestag beschlossen.
Ob das etwas bewirken kann gegen den Hass auf Juden in unserem Land? Ich habe da meine Zweifel. Eher führt es zu Ressentiments bei Muslimen; denn auch sie sind hierzulande Feindschaft ausgesetzt und beklagen antimuslimischen Rassismus.
Ein gesamtgesellschaftliches Phänomen
Auf ein paar Grundsätze müssen wir uns verständigen, wenn wir dem Antisemitismus auf den Grund gehen und vorbeugen wollen:
- Der Antisemitismus unter Muslimen ist nicht im Islam, sondern in der Geschichte und politisch begründet; diese Gründe gilt es zu erforschen und zu vermitteln.
- Der Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen; es gibt ihn in allen Schichten und Gruppen, auch wenn er sich nicht immer so platt manifestiert wie bei Muslimen, die Israelfahnen verbrennen.
Wer meint, der Anteil der Antisemiten sei bei Muslimen viel höher, der schiebt den Schwarzen Peter dieser Gruppe zu, verdrängt so den Antisemitismus in den eigenen Reihen und entlastet sich.
Gedenktage und KZ-Pflichtbesuche reichen nicht
Die Gräueltaten der Nationalsozialisten betreffen uns aber, und gerade heute, und sie betreffen uns alle - unabhängig davon, ob wir Atheisten sind oder Gläubige, ob wir deutsche Vorfahren haben oder aus Einwandererfamilien stammen. Es braucht das Gedenken an die Opfer des Holocaust, um daraus Lehren für die Gegenwart und für die Zukunft ziehen zu können. Gesetzlich verordnete Gedenktage und Pflichtbesuche von Schülern in Konzentrationslagern reichen dabei nicht. Das Wissen um historische Ereignisse gilt es mit Gegenwartsbezug zu vermitteln - und zwar so, dass Mitgefühl entsteht. Denn Mitgefühl ist das wirkungsvollste Mittel gegen Diskriminierungen jeder Art. Auch gegen Antisemitismus.