Nach ESC-Eklat: Politische Songs beim Contest im Fokus
Wochenlang wurde über Israels Teilnahme am Finale des Eurovision Song Contest im Mai diskutiert. Der Songtext "October Rain" handle vom Massaker der Hamas am 7. Oktober und sei "zu politisch", so lautete die Kritik am israelischen Beitrag für den ESC. Nun wird der Text umgeschrieben.
Der Eurovision Song Contest soll eher eine Spaß-Veranstaltung sein. Ein Blick in die Historie des Songcontest verrät aber NDR Reporter Florian Schmidt: Weltpolitik spielt auch immer eine Rolle, auch wenn in den Wettkampfregeln des ESC steht: "Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur während des Contests sind untersagt".
Tatsächlich gab es von Anfang an Kontroversen, schon 1956 beim ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie der Wettbewerb damals noch hieß ...
Florian Schmidt: … wobei das damals nicht ganz so eindeutig war. Ein heute eher vergessener Sänger namens Walter Andreas Schwarz war zusammen mit Freddy Quinn der erste deutsche Teilnehmer und sang den Schlager "Im Wartesaal zum großen Glück". Es geht in diesem Lied um den Gegensatz zwischen dem Warten aufs Glück und dem Streben danach. Schwarz, der wegen seiner jüdischen Abstammung 1938 ins Konzentrationslager Holzen in Niedersachen verschleppt wurde, wo er bis Kriegsende interniert war, spielte damit aber auch auf die verdrängte Nazi-Vergangenheit an.
Fragt sich, ob die Zuschauer damals diese Anspielung wahrgenommen haben. Ich vermute mal, dass es in punkto "versteckte Botschaften" über all die Jahre noch einige mehr gab, oder?
Ja, definitiv. Um mal ein populäres Beispiel zu nennen. 1968 durfte ausnahmsweise auch mal ein Künstler aus einem Ostblockstaat beim ESC auftreten: Österreich schickte den Tschechen Karel Gott mit dem Song "Tausend Fenster" ins Rennen. Der beklagt, dass Nachbarn sich im anonymen Leben der Großstadt gar nicht mehr kennen. Da heißt es dann: "Wie auf kleinen Inseln leben wir. Du weißt nicht mal, wer wohnt neben dir". Heute kommt man zu dem Schluss, dass der österreichische Teilnehmer die Reformbewegung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei unterstützen wollte.
Es gab aber durchaus auch einige konkrete und deutliche Aussagen. 1976 ging Griechenland mit einem Lied an den Start, das offen die türkische Invasion in Zypern kritisierte. 1982 ist Finnland, das im kalten Krieg eigentlich neutral war, mit dem Beitrag "Nuku Pommiin" vertreten gewesen. "Nuku Pommiin" heißt so viel wie "die Bombe verschlafen". Mit diesem Lied über die Angst vor der Atombombe landet Finnland zwar auf dem letzten Platz. Aber auch das damalige Siegerlied knüpft an die Nachrüstungsdebatte der frühen 1980er-Jahre an: "Ein bisschen Frieden" von Nicole.
Die Regelung, dass Ansprachen und Gesten politischer Natur beim ESC verboten sind, ist ja relativ neu, sie wurde 2016 aufgestellt. Und trotzdem gab es im gleichen Jahr einen der politischsten Beiträge überhaupt.
Das war der Song "1944" der ukrainischen Sängerin Jamala, der dann auch den ESC gewann. Schon in den ersten Zeilen heißt es: "Wenn Fremde kommen, kommen sie zu eurem Haus. Sie töten euch alle und sagen: Wir tragen keine Schuld. Keine Schuld". Jamala bestritt in Interviews, dass dieser Song ein politisches Statement sei und gab an, nur ihre Familiengeschichte erzählen zu wollen. Ihre Urgroßmutter wurde 1944 mit ihren fünf Kindern in einen Güterwagon gesperrt und von der Krim nach Zentralasien deportiert. Dass die Ukraine Jamala aber zwei Jahre nach der Annexion der Krim durch Russland mit diesem Lied zum ESC schickte, dürfte kein Zufall gewesen sein.
Wenn man sich diese vielen Beispiele so anhört und anschaut, dann kommt man schon zu dem Eindruck, dass der ESC sehr wohl eine politische Veranstaltung ist.
Das sehe ich auch so. Auch wenn es Songs gab, die tatsächlich nicht am Wettbewerb teilnehmen durften, weil sie zu offensichtliche politische Botschaften hatten, wie zum Beispiel 2009 der georgische Beitrag "We Don't Wanna Put In" - in dem "Put In" - "Putin" zu ähnlich klang. Davon abgesehen aber scheint die Merkregel zu gelten: kritisiere nicht zu deutlich, dann wird der Song schon durchgewunken. Insofern also spiegelt und kommentiert auch der ESC die jeweilige Zeit. Erst recht, wenn sie so komplex und widersprüchlich ist wie unsere Gegenwart im Jahr 2024.
Das Gespräch führte Julia Waestlake.