Zum Tod von Wolfgang Rihm: Neue emotionale Welten
Er wagte früh zu experimentieren, überraschte mit jedem seiner Werke neu. Die Elbphilharmonie feierte mit einer Rihm-Uraufführung ihre Eröffnung. Nun ist Wolfgang Rihm im Alter von 72 Jahren gestorben.
Ein Donnerhall ging durch die Musikszene, als Wolfgang Rihm 1974 die internationale Bühne in Donaueschingen betrat. Nicht, weil die Musik so laut war, sondern weil der damals 22-Jährige es wagte, expressiv zu schreiben. "Ich wurde so als der Gott-sei-bei-uns, was macht denn der, der ist ja der Feind, der macht das ja alles ganz anders", erinnerte sich Rihm einst.
Rihm wurde am 13. März 1952 in Karlsruhe geboren. Seiner Heimatstadt blieb er zeitlebens treu, neben seinem Zweitstandort Berlin. Bereits als Elfjähriger begann er mit dem Komponieren. Er studierte - zunächst parallel zur Schule - Komposition in Karlsruhe bei Eugen Werner Velte, wechselte später nach Köln zu Karlheinz Stockhausen und anschließend nach Freiburg.
Nach seinem Erfolg in Donaueschingen rieten ihm Kritiker, doch die harmonischen Stellen aus seinen Stücken zu streichen, Kolleginnen und Kollegen beobachteten ihn skeptisch. Er war kein Rechenkünstler, sondern ein Genießer. Als er nach einem feuchtfröhlichen Abend in der Villa Massimo in Rom erst am nächsten Nachmittag wieder auftauchte, hatte er seinen Rausch ausgelebt und ein Streichquartett geschrieben. "Künstliche Rauschzustände hindern mich am Lebensgenuss", zitiert Eleonore Büning den Komponisten aus Karlsruhe in ihrer Biografie.
Rihms Musik steht emotional unter Strom
Mit seiner Opernfantasie "Dionysos" feierte er nach Texten von Nietzsche den griechischen Gott des Weines, des Wahnsinns und der Ekstase, mit Chiffren haut er Figuren aus Stein, mit Sotto voce lässt er einen Hauch von Mozart durch den Konzertsaal wehen: "Es gab bei mir immer - von Anfang an - die Präsenz der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft. Also nicht die ausgeblendete Geschichte als Garant der Zukunft, sondern die Präsenz der Geschichte als Voraussetzung für Gegenwart und Zukunft", erklärte Rihm einmal sein Schaffen.
Wolfgang Rihm komponierte mehr als 500 Werke, darunter Opern und große Orchesterwerke, Kammermusik, Musiktheater und Vokalstücke. Seine Musik steht emotional unter Strom und verlangt von Interpreten alles - und mehr, wie Uwe Dierksen im Posauenpart in "Jagden und Formen" feststellte: "Man kann es vielleicht so sagen, dass es als unspielbar galt. Für den Spieler selbst ist es tatsächlich etwas, was das Leben verändert. Es verändert es insofern, als ich über das Posaunespielen noch mal ganz neu nachdenken muss."
Hintergründe, die das Hören magisch verzaubern
Wolfgang Rihm erklärte seine Musik nicht, aber er sprach mit Leidenschaft über die Hintergründe. Dabei nahm er das Publikum in Einführungskonzerten gern mit in Labyrinthe aus Literatur, Kunst, Geschichte und Klängen, die das Hören magisch verzaubern. Erleben konnte man das regelmäßig etwa bei den Salzburger Festspielen und beim Lucerne Festival. "Das Denken muss ein Neues sein, nicht nur das Mittelchen", war einer der Hauptgedanken aus Wolfgang Rihms Kompositionsseminar.
Elbphilharmonie eröffnete mit einer Rihm-Uraufführung
Dem Norden war Rihm spätestens seit den späten 1970er-Jahren eng verbunden. So wurde seine 1979 in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführte Kammeroper "Jakob Lenz" ein Erfolg. Zwischen 1983 und 1986 folgte "Die Hamletmaschine", ein Musiktheaterstück in fünf Teilen mit einem Libretto nach dem gleichnamigen Theaterstück und 1987 "Oedipus" mit Texten von Sophokles. 1992 brachte die Hamburger Staatsoper "Die Eroberung von Mexico" von ihm auf die Bühne.
Am 11. Januar 2017 feierte die Elbphilharmonie mit der Uraufführung von Rihms "Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn" ihre Eröffnung. Thomas Hengelbrock dirigierte das NDR Elbphilharmonie Orchester damls, zum hochkarätigen Sängerensemble gehörten Anja Harteros, Wiebke Lehmkuhl, Philippe Jaroussky, Jonas Kaufmann und Bryn Terfel. Dank der internationalen Aufmerksamkeit und zahlreichen Übertragungen verfolgte ein Millionenpublikum die Uraufführung.
Erst im vergangenen Juni widmete das Internationales Musikfest Hamburg Wolfgang Rihm und seinem Lehrmeister Karlheinz Stockhausen einen zweiteiligen Schwerpunkt im Programm.
"Schlüsselfigur" der zeitgenössischen Musikwelt
Vor einigen Jahren erkrankte Wolfgang Rihm an Krebs, es folgten viele Chemotherapien. "Es kann noch einige Jahre so gehen, niemand weiß es", sagte seine Ehefrau Verena dem Journalisten Victor Grandits, der seinen Porträtfilm 2020 "Das Vermächtnis" nannte. Nun bestätigte seine Frau den Tod ihres Mannes.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) würdigte Rihm als "Institution der Musikwelt". Er habe von Widerständen und Kritik unbeeindruckt eine eigene Ästhetik entwickelt und über Jahrzehnte hinweg ein ebenso umfangreiches wie vielseitiges Werk geschaffen. Die Vorstandsvorsitzende der Universal Edition Astrid Koblanck bezeichnete Rihm als "wichtige Schlüsselfigur" der zeitgenössischen Musikwelt. Die Berliner Philharmoniker kündigten an, Rihm und seine Werke mit einer sogenannten Composer-in-Residency in der bevorstehenden Saison 2024/25 zu ehren.
Mit Textpassagen von Margarete Zander