Zum Tod der Pianistin und Komponistin Carla Bley
Carla Bley, eine der wichtigsten amerikanischen Komponistinnen, ist im Alter von 87 Jahren am 17. Oktober 2023 gestorben. Eine Künstlerin mit einer integren, kompromisslosen musikalischen und politischen Haltung und einem irrwitzigen Humor.
Als Carla Bley im Oktober 1965 ihr erstes Konzert im NDR spielte, gab Redakteur Hans Gertberg dem Publikum eine zarte Warnung mit auf den Weg: "Bitte beachten Sie - Free Form Jazz. Das wird kein Ohrenschmaus im herkömmlichen Sinne!" Was dann auf der Bühne zu hören war, wies schon einige jener Zutaten auf, die später mit dem Namen Carla Bley verbunden werden sollten: lustvoll und aufmüpfig tanzten die Melodien im Freigehege des Jazz und spornten sich immer wieder zu spontanen Richtungswechseln an.
Genialer Stilmix
Ob Swing, Tango, Jazzrock, Marschmusik, Nationalhymnen, Free Jazz oder schwermütige Walzer – virtuos beherrschte Carla Bley die gesamte Stilpalette und versah sie schon mit einer eigenen Signatur, als das Wort "postmodern" noch gar nicht erfunden war. Sie selbst verstand sich als eine Art Puzzle aus den unterschiedlichsten Vorbildern. So bat die Redaktion von "allaboutjazz" Carla Bley einmal, ihre Einflüsse aufzuzählen und erhielt folgende Antwort:
"Ich erinnere mich an Leute, die Hymnen für ein Bibel-ähnliches Buch komponiert haben. Ihre Musik war sehr wichtig für mich, als ich noch ein Kind war. Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, wir sind jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Der nächste Einfluss war mein Vater, der zuhause Edvard Griegs Klavierkonzert gespielt hat, ziemlich schlecht allerdings. Dann gab es bei uns in Oakland eine Musik, die sich Sepia nannte, ein wenig wie die Hymnen, aber es war kein Gospel, es war weltliche Musik und wurde meist von vier Frauenstimmen gesungen, das war auch ein großer Einfluss und meine erste Begegnung mit schwarzer Musik. Von dort war es zum Jazz nur noch ein kleiner Schritt.
Später dann habe ich Kurt Weill gehört, als ich nach New York kam. Von ihm bin ich sehr beeinflusst worden, übrigens auch von Eric Satie. Seine Komposition 'Parade' habe ich schon mit zwölf gehört. Damals hatte ich einen kleinen Recorder. Der ist aber kaputt gegangen, und das Satie-Stück war das einzige, das ich noch abspielen konnte. Also habe ich es immer und immer wieder angehört." Carla Bley erbrachte zeitlebens den Beweis, wie gut sich diese unterschiedlichen Einflüsse unter ihrer Hand verstanden.
Fernseh-Portrait
Carla Bley, Paul Bley und Michael Mantler
1936 wurde sie als Lovell May Borg als Tochter eines Kirchenmusikers im kalifornischen Oakland geboren und machte schon als Kleinkind die ersten Versuche auf Klavier und Orgel. Ende der 1950er Jahre ging sie nach New York, jobbte als Zigarettenverkäuferin in einem Jazzclub und verliebte sich in den Pianisten Paul Bley. Er wurde ihr erster Ehemann, erkannte schnell ihr Talent, förderte und forderte sie als Komponistin. Einmal, so erzählte sie, orderte er bei ihr über Nacht sechs Stücke, die er auch pünktlich geliefert bekam. Schon bald folgte allerdings die Scheidung.
Carla Bley hatte Michael Mantler kennengelernt, einen Komponisten und Trompeter aus Österreich. 1966 wurde die gemeinsame Tochter Karen geboren, die später auch Musik machen sollte. Gemeinsam gründeten Bley und Mantler das Jazz Composer's Orchestra, einen Vertrieb und eine Plattenfirma. Große Werke entstanden, die Carlas Bleys Ruhm begründeten und die bis heute zu den Schätzen des modernen Jazz zählen: "A Genuine Tong Funeral" mit Gary Burton, "Liberation Music Orchestra" mit Charlie Haden und "Escalator Over The Hill" – eine Art Jazz-Oper, ein Mammut-Werk für mehr als 20 Musikerinnen und Musiker, das noch heute durch seine Kraft und Fantasie beeindruckt.
Bigbandleiterin und Komponistin
"Eine Bigband", meinte Carla Bley, "ist für mich die größte Herausforderung. Ich denke, bei dieser Form sollte ich auch bleiben. Außerdem gibt es in dem Genre kaum Konkurrenz. Nur wenige schreiben richtig gute Bigband-Musik." Sie nahm diese Herausforderung immer wieder neu an und schaffte es, die Vielfalt ihrer Ideen zu erhalten und ihren Ruf zu etablieren - mit fulminanten Orchesterwerken, die ebenso lust- wie kunstvoll mit Ironie und hintergründigen politischen Aussagen gewürzt waren. Mehrfach hatte auch die NDR Bigband das große Vergnügen, gemeinsam mit Carla Bley in deren schillernde Welt einzutauchen. Die letzte Begegnung war 2016. Zum 80. Geburtstag der Künstlerin führten sie "La Leçon Française" auf, ein tief berührendes Spätwerk für Bigband und Knabenchor.
"Ich bin Komponistin", meinte sie einmal, "und möchte möglichst wenig der Eingebung eines Jazzmusikers überlassen." Das klang selbstbewusst, fast schon autoritär. Vielleicht war es auch ein Hinweis auf die Kraft, die es braucht, sich als Frau in der Männerwelt des Jazz durchzusetzen, in der sie sich seit ihren Anfängen bewegte.
Bassist Steve Swallow - Partner in der Musik und im Leben
Der letzte Mann in ihrem Leben war der wichtigste: Steve Swallow, ein bedeutender Bassist und selbst auch ein hervorragender Komponist. Er wurde Carla Bleys enger, geradezu symbiotischer Gefährte, im Privaten wie in der Musik. Durch Steve Swallow, sagte sie, sei sie als Komponistin noch weiter gewachsen. Er regte sie auch an, das Klavierspiel von der Pike auf zu lernen. Früher habe sie beim Komponieren nach dem Einfinger-Prinzip auf die Tasten "eingestochen".
Carla Bley entwickelte sich als Pianistin immer weiter und gab fast schon beängstigend intensive Duo-Konzerte mit Partner Swallow. Er liebte die gemeinsamen Auftritte – sie hasste sie, fühlte sich dabei "beobachtet" und "entblößt". Auf dünnes Eis begab sie sich nur ungern. Sie versteckte sich hinter einer imposanten Löwenmähne, der Pony hing wie ein schützender Vorhang über den Augen. Ob Unsicherheit oder vielleicht auch ein bisschen Habitus – das Publikum liebte ihre Erscheinung wie ihre Musik.