Strawinskys "Sacre": Vom Skandalstück zum Hit
Welche Werke der klassischen Musik sollte man kennen? Die Antwort auf diese Frage kann man in Lexika suchen oder in Lehrplänen für die Schule. Oder man kann Musiker fragen. Im Weltwissen Musik stellen die Mitglieder des NDR Elbphilharmonie Orchesters ihre Lieblingsstücke vor. Dieses Mal: Tubist Markus Hötzel erzählt, was ihn an Igor Strawinskys "Sacre du Printemps" so fasziniert.
Erst wurde gelacht und gepfiffen, dann kam es zu Handgreiflichkeiten und es gab 27 Verletzte - bis schließlich sogar die Polizei eingreifen musste. Die Pariser Uraufführung von Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" ("Das Frühlingsopfer") im Jahr 1913 war einer der größten Skandale der Musikgeschichte. Heute gehört die kraftvolle, bisweilen explosive Ballettmusik längst zum klassischen Standardrepertoire und hat viele Fans. Einer von ihnen ist Markus Hötzel, seit 2000 Tubist im NDR Sinfonieorchester. "Ich glaube, es war während einer Klassenfahrt in der Schule", erzählt Hötzel. "Damals gab es ja noch Musikkassetten. Da hab ich mir einfach mal so, obwohl ich nichts kannte und das alles neu für mich war, zwei Musikkassetten gekauft. Die eine war von Antonin Dvořák, die Sinfonie 9 'Aus der neuen Welt', und die andere eine Aufnahme von 'Sacre du Printemps' von Strawinsky."
"Zuerst etwas befremdlich"
16 Jahre alt war Markus Hötzel, als er die Kassette mit Strawinskys "Sacre du Printemps" in den Player legte. Und was da auf sein Trommelfell knallte, hat ihn sofort beeindruckt. Daran erinnert sich der Musiker noch ganz genau. "Es war schon etwas befremdlich zuerst, weil man etwas Melodisches erwartet hätte. Aber es war eine ganz andere Musik: sehr rhythmisch betont und sehr wild, teilweise auch aggressiv, mit wahnsinnig vielen unterschiedlichen Stimmungen und neuen Ideen, dass ich das schon ziemlich faszinierend fand", erzählt Hötzel.
Heidnische Feier im alten Russland
Der damals 31-jährige Igor Strawinsky schrieb seinen "Sacre" im Auftrag der in Paris gefeierten Ballettgruppe Ballets Russes. Nach dem Erfolg seiner Ballettmusiken "Petruschka" und "Feuervogel" schwebte ihm etwas anderes, etwas Neuartiges vor: Die Vision einer heidnischen Feier im alten Russland. Nach der Anbetung der Erde wird eine Jungfrau ausgewählt, die dem Frühlingsgott geopfert werden soll. Sie tanzt sich im zweiten Teil des Balletts in einem rauschhaften Ritual zu Tode. Diese Geschichte malte Igor Strawinsky in seinem "Sacre du Printemps" mit rauen, mitunter brachialen Klängen aus.
Grell und perkussiv wuchtig
Markus Hötzel, der selbst früher Schlagzeug gelernt hat, liebt den grellen Farbreichtum und die perkussive Wucht der Musik "mit sehr vielen Taktwechseln, komplizierten Rhythmen im Orchester, wo sich vieles abwechselt und auch eine nicht alltägliche Instrumentation", schwärmt Hötzel. "Am Anfang dieses Fagottsolo in hoher Lage, dann dieses Piccolotrompeten-Solo danach mit Dämpfer, was auch sehr, sehr ungewöhnlich ist."
Seltene melodische Passagen für die Tuba
Auch an die Tuba stellt Strawinsky besondere Aufgaben. Sie hat oft sehr kurze Töne, wie eine blasende Pauke. Nur selten schreibt ihr der Komponist solche melodischen Passagen. Markus Hötzel nimmt sein schweres Instrument auf die Knie, atmet ordentlich ein und spielt die Passage. Die Tuba verströmt einen mächtigen Klang - deshalb funktioniert die Aufnahme erst, als der Regler am Mikrofon weit nach unten geschoben ist.
"Man wird der Musik nicht überdrüssig"
Tubist Hötzel hat Strawinskys "Sacre" schon mehrfach unter verschiedenen Dirigenten aufgeführt. Aus dem ehemaligen Skandalstück ist längst ein Orchesterhit geworden. Und zwar völlig zu Recht, meint Markus Hötzel. "Man hat es so wahnsinnig oft gespielt - aber die Musik erschöpft sich überhaupt nicht", sagt er. "Es ist so toll und genial komponiert, dass man der Musik nicht überdrüssig wird."