Wie Menschen weltweit Krisen meistern - Teil 3: Türkei
Ein Herz für Straßentiere
Natürlich haben nicht alle Familie und Freunde. Wem der Mensch fehlt, der sucht das Tier. Vor allem Alleinstehende, mehr ältere Damen als Herren, kümmern sich fast aufopfernd um Straßentiere - vorzugsweise Katzen. Und die gibt es etwa in Istanbul zuhauf. Wer sie liebt und sich um sie sorgt, stellt kleine Häuschen für sie auf, ausgestopft mit Kissen und Decken, verteilt Futternäpfe und Wasserschalen um die Häuschen - immer wieder frisch befüllt. Sicher auch in dem Glauben, dass ihnen Dankbarkeit zuteilwird. Und ist nicht Geben schöner als Nehmen, wegen des Dankes? Einzelne Damen setzen sich regelmäßig auf Bürgersteigkanten oder Treppenabsätze zu ihren Lieblingen, locken sie an, rufen sie mit Kosenamen. Eine ältere Frau schleppt tütenweise Futter herbei. Wenn sie schätzungsweise 15 Katzen um sich herum versammelt hat, beginnt die Fütterung. Während des Fressens halten die meisten Katzen still und lassen sich von ihrer Gönnerin streicheln. Mensch und Tier scheinen für einen Moment eins zu werden, vereint im gemeinsamen Glück des Sorgens und versorgt Werdens.
Die Familie steht an erster Stelle
Es ist eine Binsenweisheit, dass Menschen in der Not zusammenrücken - vermutlich tun sie das überall auf der Welt. In der Türkei rückt man vor allem in der Familie zusammen. Sie steht auf der Wichtigkeitsskala ganz oben. Zu romantisieren gibt es da allerdings nichts. Denn Familie bedeutet auch Familien-Ehre. Und die ist schnell verletzt: durch eine missglückte Ehe, Homosexualität, berufliche Eigenständigkeit von Frauen oder andere missachtete gesellschaftliche Vorgaben. Über deren Einhaltung wachen Familien. Hunderte Frauen werden jedes Jahr im Land getötet, weil sie sich angeblich nicht an die Regeln gehalten haben. Die Täter kommen oft aus der Familie. Brüder, Ehemänner und Väter werden zu Mördern oder Totschlägern. Auch wenn jeder einzelne Fall grausam und ein Fall zu viel ist: Sie sind nicht die Regel, sondern entsetzlicher Auswuchs eines zweifelhaften Ehrbegriffs. Der Normalfall ist das Positive familiärer Bande - als emotionales und soziales Auffangnetz in der Not.
Vor kurzem starb einer der Söhne der alten Dame in der Wohnung über mir. Ihre Kinder sind Mitte 40 bis Mitte 50. Der zweitälteste Sohn stand ihr besonders nahe. Ich habe ihn erst vor kurzem kennengelernt - habe ihn als sehr gebildeten, angenehmen Menschen in Erinnerung. Nun müssen seine Geschwister der Mutter die Nachricht von seinem Tod überbringen. Von jetzt an ist sie keinen Moment mehr allein. Ihre Kinder, deren Familien, Enkel, Nichten, Neffen, Freunde und Bekannte geben sich die Klinke in die Hand. Einen Tag später ist die muslimische Beisetzung. Danach treffen sich die Trauernden in der Wohnung der Mutter des Toten. 50 oder vielleicht 60 Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder sind zusammen. Ich höre ihre Stimmen und ein rituelles Gebet über den Balkon. Der älteste Sohn klingelt an meiner Tür und bittet mich hoch. "Du bist für uns wie Familie", sagt ein anderer Bruder des Verstorbenen. Es geht nicht um mich, aber es ist ein Moment des Glücks, einbezogen zu sein in ihre Trauer, Teil ihrer Gemeinschaft zu sein.
Das Glück ist auch im Kleinen zuhause
Dabei hat es "die Gemeinschaft" angesichts der Probleme in der Türkei derzeit schwer. Doch sie kommt immer wieder zum Vorschein - auch da, wo man sie nicht erwartet: Zu dem Mann auf der Treppe haben sich zwischenzeitlich ein weiterer und eine Frau gesellt. Auch wenn es mild ist: Ihre Nächte im Freien sind unruhig. Stechmücken fallen über sie her. Der Mann auf der Treppe spannt sein Moskitonetz über den Schlafplatz der Frau. Versorgen und versorgt werden - ein bisschen Gemeinschaft: Das Glück ist auch im Kleinen zuhause.
- Teil 1: Großer Zusammenhalt in der Bevölkerung
- Teil 2: Ein Herz für Straßentiere