Feature "Bescheidene Verhältnisse": Von der Maloche zur Literatur
Schreiben Arbeiterinnen und Arbeiter anders? Das Feature "Bescheidene Verhältnisse" von Martin Becker und Tabea Soergel will dieser Frage auf den Grund gehen. Es lief auf NDR Kultur und ist jetzt online zu hören.
"Meine Tochter hat, als sie in der Kita war, immer gesagt: Mein Papa ist Bauarbeiter und Schriftsteller", erzählt Jens Eisel und lacht. Damit ist Eisel kein Einzelfall. Dinçer Güçyeter teilt diese Erfahrung zweier Lebenswelten, die oft gar nicht so leicht auseinanderzuhalten sind: "Wenn ich heute am Schreibtisch sitze, sehe ich da überhaupt gar keinen Unterschied. Ich habe immer noch das Gefühl, ich würde am Schraubstock stehen, an einem U-Stahl feilen und irgendetwas Rohes in eine Form bringen."
Arbeit in der Gummifabrik: "Fühlt sich einfach nur ätzend an"
Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle gehören für die meisten irgendwie dazu. Zumindest in den Anfängen, bis allmählich aus der "bescheidenen Herkunft" etwas Besonderes entsteht. Gummifabrik-Arbeiterin und Comic-Autorin Eva Müller: "Irgendwie war mir gar nicht klar, dass das erzählenswert ist, vor allem nicht währenddessen, weil es sich einfach nur ätzend anfühlt. Ich will das auch gar nicht romantisieren. Gerade ein Fabrikjob macht einen so dröge, dass man tatsächlich gar nicht mehr an so etwas wie Kunst oder Erzählen oder Schreiben denkt."
Der Weg von der Maloche in die Literatur ist nicht immer geradlinig. Auch braucht es nicht immer knallharte Erfahrungen, um gut über die Arbeitswelt schreiben zu können. Das meint jedenfalls Jens Eisel, der nach seiner Schlosserausbildung erst als Hausmeister, Lagerarbeiter und Krankenpfleger in Hamburg gearbeitet hat, bevor es ihn nach Leipzig ins Literaturinstitut zog. Er sagt: "Alle wollen irgendwie gerne Texte lesen, wo das echte Leben drinsteckt. Dann wird immer noch geglaubt, dass das eben genau die Leute können, die das Leben kennen. Aber ich weiß nicht unbedingt, ob das so ist. Ich würde sogar behaupten, es ist nicht so."
Arbeiterliteratur brummt
Fest steht: Arbeiterliteratur brummt. Iuditha Balint ist Direktorin am Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund. Unter ihrer Leitung ist die Bibliothek mit dem Schwerpunkt Arbeitswelt sehr viel größer geworden. "Natürlich freut mich eine literarische Beschäftigung mit der Arbeitswelt", so Balint. "Denn ich sehe die Literatur als ein Medium, das nicht nur dazu beitragen kann, dass gesellschaftliche Phänomene reflektiert werden, sondern auch dazu, dass sich Missstände verändern, möglicherweise durch dieses Reflexionspotential, das Literatur hat."
Dinçer Güçyeter fährt weiter Gabelstapler
Was aber wird aus der Malocherwelt, wenn sich Erfolg im Literaturbetrieb einstellt? Bei Dinçer Güçyeter läuft es seit einiger Zeit bestens. 2022 bekam er den Peter-Huchel-Preis, in diesem hat er den Preis der Leipziger Buchmesse für "Unser Deutschlandmärchen" gewonnen. Ist jetzt also Schluss mit dem Doppelleben?
"Wenn ich mir heute meine ganzen Termine anschaue, was Lesungen, neue Kooperationen oder Verträge angeht, brauche ich meinen Nebenjob als Staplerfahrer nicht mehr", erzählt Güçyeter. "Aber diese Stelle gibt mir ja auch etwas anderes: Ich komme jeden Tag mit Lkw-Fahrern aus Rumänien, Polen, Ungarn, Frankreich und England zusammen, und ich liebe diese Geschichten. Ich liebe diesen Austausch und habe immer noch das Gefühl, ich gehöre dahin."
Das Feature “Bescheidene Verhältnisse - Schreiben in Schichten“ lief am Dienstagabend um 20 Uhr auf NDR Kultur und steht bereits in der ARD Audiothek.