Verschickungskinder: Misshandlungen in Erholungsheimen
Etwa drei Millionen Kinder wurden von den 50er- bis in die 70er-Jahre in sogenannte Kindererholungsheime geschickt. Viele haben dort körperliche und seelische Misshandlung erlebt. Die Doku "Was ist damals passiert? Meine Kinderverschickung" ist nun in der ARD Mediathek zu sehen.
Der Hamburger Filmemacher Thilo Eckoldt wurde als Kind selbst mehrmals in sogenannte "Kindererholungsheime" Heime geschickt, um sein Asthma auszukurieren. Er war Willkür und Gewalt der Erzieherinnen völlig ausgeliefert. "Als ich in dieses Kinderheim in der Schweiz kam, habe ich gleich als erstes einen Brief an meine Eltern geschrieben: 'holt mich hier raus, das ist ja ganz schrecklich'", sagt Eckoldt.
Er habe nicht geahnt, dass die Post kontrolliert wurde. Dann habe er einen Karte schreibe müssen, dass es ihm gutgehe und er sich wohlfühle. "Ich habe aufgegeben und mich nur noch hilflos und verloren gefühlt." Nach einem Jahr holen ihn die Eltern ab. Der Vater ist mit der Kamera dabei: Die Aufnahme zeigt eine Umarmung mit der Kindertante. Nichts daran ist echt - nur eine Show für die Eltern.
Mehr als drei Millionen Kinder wurden in die Heime verschickt
Lange dachte Thilo Eckoldt, es wäre nur ihm so gegangen, er hätte eben Pech gehabt. Konservativ geschätzt betrifft es jedoch mindestens drei Millionen Kinder und Jugendliche, die bis in die 1970er-Jahre zum Zwecke der Gesundheitshilfe an die See oder in die Berge verschickt worden. Im Internet findet er ein Netzwerk von 2.000 ehemaligen Verschickungskindern, die Ähnliches erlebt haben.
Das Kurbad St.Peter-Ording ist bis heute ein Sehnsuchtsort für Erholungssuchende. Für Jörg Römer war es ein Trauma, als Verschickungskind im Seeschloss untergebracht zu werden. Im Film von Thilo Eckholdt stellt er sich seinen Erinnerungen. "In der Nacht habe ich mich erbrochen. Dieser Geruch und dieses Gefühl von Erbrochenem, die sind mir wieder bewusst, wenn ich die Fenster sehe und diese Räume", sagt Römer. "Ich hab damals gedacht, dass ich niemals mehr hier rauskomme. Für mich war das Endstation. Ich hatte nicht mehr den Glauben, dass ich meine Eltern wiedersehe."
Autoritäre Erziehungsmethoden aus der NS-Zeit
Den Willen der Kinder brechen. Der Film zeigt, dass diese autoritäre Erziehungsmethode aus Kaiser- und Nazizeit offenbar noch bis Ende der 70er-Jahre in manchen Heimen zur Tagesordnung gehörte. "Die Menschen, die im Nationalsozialismus als Kinder groß geworden sind, die dann später Erzieherinnen und Erzieher wurden, haben diese Ideologie eingepflanzt gekriegt", sagt Thilo Eckoldt. "Das wurde nicht groß hinterfragt und deshalb hat sich das lange fortgesetzt."
Aber es gab auch Erzieher, die protestierten. Hans-Jürgen Brennecke arbeitete in den 70er-Jahren in einem Heim in Lüneburg. Er rebellierte gegen die Heimleitung und wurde entlassen. "Die Einführung der Heimleiterin war: 'Hauptsächlich müssen Sie in der ersten Nacht die neu ankommende Gruppe so zusammenscheißen, dass die sechs Wochen ihr Maul halten'", sagt der ehemalige Erzieher. "Die Kinder zur Strafe unter die kalte Dusche stecken, wenn sie noch so schrien und um Hilfe flehten. Da kommen mir heute noch mitleidige Gefühle hoch, die ich damals schon hatte."
Ist eine Wiedergutmachung möglich?
Anja Röhl vertritt die Interessen der ehemaligen Verschickungskinder. "Wir wollen, dass sich runde Tische bilden, wo sich die ehemaligen Wohlfahrtsorganisationen, die alle beteiligt sind, und die Politik mit uns an einen Tisch setzen und überlegen, wie eine Wiedergutmachung erfolgen kann." Letztlich sicherte das System der Kinderverschickung auch ein gutes Geschäft für Ärzte, Kassen und Gemeinden. "Die Kinder garantierten zwölf Monate im Jahr rund um die Uhr immer wieder neue Kinder. Alle sechs Wochen und das über Jahre. Und das war für solche Kurorte natürlich auch eine sichere Geldeinnahme."
Die Dokumentation "Was ist damals passiert? Meine Kinderverschickung" des Hamburger Filmemacher Thilo Eckoldt lief am 27. Oktober ab 21 Uhr im NDR Fernsehen und ist im Anschluss für ein Jahr in der ARD Mediathek.