"Es musste weitergehen. Für Trauer war keine Zeit"

Hochzeitsfoto von Lotte und Felix Szelski (historische Aufnahme). © NDR/Lotte Szelski
Hochzeitsfoto von Lotte und Felix Szelski (historische Aufnahme).

"Dieser Winter war der schönste, aber zugleich auch der traurigste Winter in meinem ganzen Leben", erinnert sich Lotte Szelski, damals 24 Jahre alt. Sie und ihr Mann erwarten im Herbst 1946 ihr erstes Kind. Das junge Paar hat in Chemnitz eine Wohnung ergattert. Die ist allerdings zugig, nur mit einem provisorischen Ofen ausgestattet und schlecht zu heizen. Im November bringt Lotte einen gesunden Jungen zur Welt. Doch dann wird der kleine Felix krank und muss ins Krankenhaus.

Kinder auf sich allein gestellt

Martin Schneider (re.). © NDR/Martin Schneider
Klassenfoto von Martin Schneider.

Martin Schneider ist 1946 elf Jahre alt und lebt in Lübbenau im Spreewald. Er muss nicht nur sich und seine zwei Jahre jüngere Schwester durch den Winter bringen, sondern auch für seine Mutter sorgen. Sie wurde mehrfach von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt und ist nicht mehr in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern.

 

VIDEO: Martin Schneider im Interview (2 Min)

Für Martin Schneider hieß es: "Ich wusste nie, wenn ich satt bin. Ich wollte nur immer essen, essen, essen und mein Traum war: Jetzt lernst du Bäcker - dort hast du wenigstens satt zu essen."

Rücksichtnahme bis zum Tod

Inge Kotsch (li.) geb. Weßling. © NDR/Inge Kotsch
Inge Kotsch (links) mit Mutter, Schwester und einer Verwandten.

Die zwanzigjährige Inge Kotsch, geb. Weßling, lebt 1946 mit ihrer Mutter, der Schwester und dem Großvater am Stadtrand von Berlin. Der Senior hält Haus und Garten in Schuss, während seine Tochter und die zwei Enkelinnen Lebensmittel und Brennstoffe organisieren. "Iss den Mädchen nicht das Essen weg", mahnt ihn die Mutter eines Tages, als er sich einen Rest Brennnesselsuppe nimmt. Der Großvater zieht sich zurück und isst nun kaum noch. An einem Februarmorgen des Jahres 1947 wacht er nicht mehr auf. "Es musste weitergehen. Für Trauer war keine Zeit", erinnert sich Inge Kotsch.

Eine Großfamilie lebt im Kuhstall

Edith Mischke auf einer historischen Aufnahme (1.v.li.). © NDR/Mischke
Edith Mischke (1.v.li.) mit ihrer Familie (historische Aufnahme).

Edith Eints, geb. Mischke, ist im Herbst 1946 neun Jahre alt. Ihre Großfamilie ist aus Westpreußen geflohen; einer ihrer Brüder ist dabei von einer Granate getötet worden. Alle anderen haben es über die Ostsee geschafft. Ihre Odyssee endet in Schleswig-Holstein. Die Mischkes werden auf dem Dorf einquartiert, sie hausen in einem heruntergekommenen Kuhstall. Und schon wieder ist die Mutter schwanger. Fast beneidet sie die Frauen, deren Männer im Krieg geblieben sind. Denn die Familie muss nicht nur den alltäglichen Mangel, sondern auch die Wut des invaliden Vaters ertragen.

Edith Eints denkt nicht gerne an die Zeit: "Also die Kälte war wirklich schlimm. Wir sind manchmal aneinander geschlupft. Wir waren schon zu zweit in einem Bett. Aber manchmal waren wir zu dritt in einem Bett, damit wir bloß ein bissel eigene Wärme erzeugen konnten."

Eine eingeschworene Gemeinschaft

Günther und Klaus Kammeyer (historische Aufnahme). © NDR/Kammeyer
Günther und Klaus Kammeyer (historische Aufnahme).

Ganz anders geht es da bei den Kammeyers in Hamburg zu. Die Brüder Klaus und Günther Kammeyer, acht weitere Geschwister und die Eltern leben in einer winzigen Drei-Zimmer-Wohnung. Die Großfamilie ist eine eingeschworene Gemeinschaft, sie hält zusammen. Jeder trägt auf seine Weise zum Überleben bei. Auch die beiden erst zehn- und elfjährigen Jungs helfen eifrig mit. Für sie sind Hamsterfahrten, Organisieren und Kohlenklau willkommene Abenteuer. Ihre Eltern machen sich Sorgen, dass die Jungen kriminell werden.

 

VIDEO: Günther Kammeyer im Interview (1 Min)

Günther Kammeyer leidet noch heute: "Ich habe erfahren, dass Hunger und auch Kälte Schmerzen verursacht. Innere Schmerzen. Seelische, körperliche Schmerzen. Man fühlt: Du bist an einem Punkt angelangt - leben oder sterben. So ein Gefühl habe ich gehabt."

Verzweiflungstaten jener Zeit

Wilhelm Müller (historische Aufnahme). © NDR/Wilhelm Müller
Wilhelm Müller (historische Aufnahme).

Was mit denen geschieht, die auf die schiefe Bahn geraten, erlebt Wilhelm Müller in Herford täglich. Sein Vater ist Richter; in seiner Freizeit hilft der 21-jährige Wilhelm ihm beim Schriftverkehr oder begleitet den Vater ins Gericht - und wird so Zeuge der vielen Verzweiflungstaten jener Zeit: "Hunger ist eigentlich immer mit Angst verbunden. Angst, was das morgen bringt, was übermorgen aus einem selbst oder aus der Familie wird, ob man es noch erleben kann, oder ob nicht irgendwie das Ende dann da steht."

Dieses Thema im Programm:

NDR Fernsehen | 21.02.2010 | 20:15

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