"Adolescence": Debatte über toxische Männlichkeit und soziale Medien
Ein 13-Jähriger begeht einen Mord und bringt damit Gesellschaft und Familie an den Rand der Verzweiflung: Die Netflix-Serie "Adolescence" ist ein fesselndes Drama, das nicht nur in Großbritannien Debatten auslöst.
In Großbritannien ist die Serie seit Wochen Thema - "Adolescence sei seit seiner Veröffentlichung mehr als 124 Millionen Male abgerufen worden, teilt der Streamer "Netflix" am 15. April mit. Sie stehe somit an Platz drei der meistgesehenen britischen Shows aller Zeiten.
Beim britischen Premierminister Keir Starmer hinterließen die vier Folgen so einen Eindruck, dass er die Macher in der Zwischenzeit in der Downing Street empfangen hat. Außerdem unterstützt die britische Regierung nun eine Initiative von Netflix, die Serie gratis an weiterführenden Schulen im ganzen Land zu zeigen. Das könne helfen, die Auswirkungen von Frauenfeindlichkeit, Gefahren der Online-Radikalisierung und die Bedeutung gesunder Beziehungen besser zu verstehen.
Darum geht's in den vier Folgen "Adolescence"
Der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper) wird beschuldigt, eine Mitschülerin auf grausame Weise ermordet zu haben. Während Detective Inspector Luke Bascombe (Ashley Walters) und Polizeipsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) den Fall untersuchen, kämpft Jamies Vater Eddie ("Peaky Blinders"-Star Stephen Graham) mit der Frage: Wie gut kennen wir unsere eigenen Kinder wirklich?
One-Shot: Technische Umsetzung reißt das Publikum mit

Was "Adolescence" so besonders macht, ist die technische Umsetzung. Jede der vier Episoden ist ein echter One-Shot - gedreht in einer einzigen ungeschnittenen Kamerafahrt. Das erzeugt eine unglaubliche Intensität, die das Publikum mitten ins Geschehen zieht. Regisseur Philip Barantini, der diese Technik bereits in seinem Spielfilm "Yes, Chef!" einsetzte, bringt die Unmittelbarkeit hier auf ein neues Level.
Die Kamera bleibt dicht an den Figuren, folgt ihnen atemlos durch Verhöre, häusliche Konflikte und emotionale Zusammenbrüche. Diese filmische Herangehensweise lässt uns Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen in Echtzeit miterleben, als wären wir selbst Teil der Ermittlungen.
Jugenddarsteller Owen Cooper: Ein Debüt, das unter die Haut geht

Im Zentrum dieser aufwühlenden Geschichte steht Owen Cooper als Jamie Miller. Was der britische 15-Jährige hier leistet, ist bemerkenswert. Es ist seine erste Rolle vor der Kamera, und doch trägt er die Serie über weite Strecken beinahe allein. Besonders in den beiden Episoden, die sich nahezu vollständig um seine Figur drehen, liefert Cooper eine bemerkenswerte Leistung ab - und verkörpert mit beklemmender Authentizität die Zerbrechlichkeit und die dunklen Abgründe seiner Figur.
Neben Owen Cooper glänzt ein hochkarätiges Ensemble: Stephen Graham ("Gangs of New York", This is England“, "Snatch"), der nicht nur als Jamies Vater überzeugt, sondern auch als Co-Autor und ausführender Produzent an der Serie beteiligt ist, bringt die innere Zerrissenheit eines Vaters auf den Punkt, der an die Unschuld seines Kindes glauben will. Ashley Walters als Polizist und Erin Doherty als Psychologin liefern eine starke Leistung ab, während Christine Tremarco als Jamies Mutter die emotionale Wucht der Serie weiter verstärkt.
Stephen Graham über Social Media: "Wir sollten darüber sprechen"
"Als wir Kinder waren, gab es noch keine sozialen Medien", so Graham. "Wenn wir nicht in unseren Zimmern waren, dann haben wir draußen auf der Straße gespielt. Wir hatten keinen Zugang zu all den Dingen in der Welt, die junge Menschen heute so stark beeinflussen. Und ich wollte mir das einfach mal genauer ansehen. Ich gebe niemandem die Schuld, ich dachte nur, vielleicht tragen wir alle eine gewisse Verantwortung und sollten darüber sprechen."
Serie bewegt Großbritannien: 24 Millionen Streams in einer Woche

"Adolescence" hat einen Nerv getroffen. In der ersten Woche erreichte die Serie allein in Großbritannien über 24 Millionen Streams und belegte in 79 Ländern den Spitzenplatz der Netflix-Charts. Selbst Premierminister Keir Starmer sprach im Parlament darüber, wie er die Serie mit seinen Kindern schaut.
Die Handlung ist fiktiv, aber von realen Fällen inspiriert. Stephen Graham beschreibt, wie ihn Berichte über jugendliche Gewaltverbrechen zu der Idee für die Serie brachten: "Ich habe von einem Jungen gelesen, der ein Mädchen erstochen hatte. Kurz danach sah ich einen weiteren Fall - in einem ganz anderen Teil des Landes. Das hat mich tief getroffen und die Frage aufgeworfen: Was läuft hier schief?"
Incel-Bewegung und toxische Männlichkeit: Wie gut kennen wir unsere Söhne?
Im Zentrum der Diskussion stehen Themen wie toxische Männlichkeit und die gefährliche Verbreitung von Incel-Ideologien im Netz. Incel steht für "involuntary celibate" - also "unfreiwillig zölibatär" - und bezieht sich auf Männer, die sich von Frauen sexuell abgelehnt fühlen. Was sie eint, ist ein tief verwurzelter Frauenhass, den sie in Online-Foren und sozialen Netzwerken verbreiten.
Drehbuchautor Jack Thorne ("Enola Holmes 1&2", "Wunder") beschreibt, wie leicht junge Männer in diese Strömungen hineingezogen werden: "Wenn ich als Teenager hören würde, dass sich 80 Prozent der Frauen für 20 Prozent der Männer entscheiden - und ich also manipulieren muss, um Anerkennung zu finden - dann hätte mich das überzeugt." Besonders besorgniserregend: Eine Studie des Londoner King's College zeigt, dass jeder vierte Mann zwischen 16 und 29 Jahren glaubt, es sei schwieriger, heute ein Mann zu sein als eine Frau.
Social-Media-Verbot an Schulen: Eine längst überfällige Diskussion
Jack Thorne fordert deshalb ein Social-Media-Verbot für Jugendliche, um sie vor solchen Ideologien zu schützen. Während die britische Regierung bisher nur ein Handyverbot in Schulen diskutiert, zeigt "Adolescence", wie dringend die Debatte über männliche Rollenbilder und die Erziehung von Jungen geführt werden muss. Die Serie ist mehr als ein Krimi - sie ist ein eindringlicher Weckruf.
Journalistin Anne Dittmann kritisiert: "Das greift zu kurz"

"Wenn die Lehre lautet, das Internet ist gefährlich, eure Handys sind böse, denn da ist die Internetkultur drin, dann haben wir die Hauptaussage der Serie verpasst." Dass "Adolescence" in Schulen geschaut werden soll, findet die Journalistin und Autorin Anne Dittmann nicht verkehrt. Doch: "Die Erwachsenen und auch die Lehrenden sollten erstmal untereinander diskutieren, ob sie den Film verstehen, ob sie ihre Aufgabe als Bezugspersonen verstehen und ob sie bereit sind, den Kindern mit ihren Sorgen und Lebensrealitäten wieder richtig zuzuhören."
Kinder brauchten Erwachsene, die mit ihnen zusammen eine gute Zukunft erträumen könnten und die an sie glaubten, fügt Dittmann hinzu. In der Realität aber seien viele Lehrerinnen und Lehrer - auch in Deutschland - am Limit. Es sei "die Aufgabe der Politik, nicht nur dafür zu sorgen, dass im Unterricht eine bestimmte Serie gesehen wird, sondern dass Schulen gut ausgestattet sind: dass es genug einfühlsame, kompetente Lehrerinnen und Lehrer gibt, die mit den Problemen der Kinder umgehen können, die Lust darauf haben, Kindern etwas beizubringen und mit ihnen wirklich in Beziehung zu gehen", so Dittmann.
Vernachlässigt "Adolescence" die weibliche Perspektive?
Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Rezensenten voll des Lobes ist, so gibt es vor allem aus feministischer Sicht Kritik: die Serie vernachlässige die weibliche Perspektive und gebe den sozialen Medien die Hauptschuld am Mord und nicht den patriarchalen Strukturen.
Währenddessen bricht "Adolescence" einen Rekord nach dem nächsten - mittlerweile hat die Serie sogar einzelne Staffeln anderer Netflix-Streaming-Hits wie "Bridgerton" und "Stranger Things" hinter sich gelassen.
Bei der Talk-Show von Host Jimmy Fallon erzählt hier Schauspieler Stephen Graham, wie Kapitel der "Adolescence"-Serie in einem Rutsch (ohne Schnitt) gefilmt wurden. Es ist am Ende kurz zu sehen, wie die Kameraleute sich die Kamera weiterreichen, während eine Schauspielerin die Treppe hochläuft (Video auf Englisch).
Mit Informationen von Valerie Krall, ARD-Korrespondentin aus London.
