Ein Herr mit grauem Bart und spiegelnder Brille sitzt hinter ienem Micro und lacht freundlich in die Kamera © NDR

Feature-Redakteur Joachim Dicks resümiert die Themen des Jahres

Stand: 27.12.2023 00:01 Uhr

Ein Rückblick auf das NDR Feature-Jahr offenbart gesellschaftliche Brennpunkte. Der Krieg in der Ukraine und Geschlechterungerechtigkeit dominieren die Themen 2023. Das neue Jahr startet investigativ.

Joachim Dicks ist bei NDR Kultur "der Mann für die Feature". Er beauftragt Autorinnen und Autoren und arbeitet mit ihnen daran, Themen zu ergründen und künstlerisch, unterhaltsam, aber vor allem informativ aufzubereiten, sodass daraus eine Sendung entsteht, die im Radio und auch online Fans findet. Das Themenfeld, das er dabei beackert, war 2023 ein sehr weites.

Joachim, bitte beschreib deinen Rückblick auf das NDR Kultur Feature-Jahr 2023. Was waren deine Highlights? Gibt es ein Feature, das dir in besonderer Erinnerung geblieben ist?

Danja, Ilija, Lera, Maxim und Vadim kommen aus Awdijiwka in der Ukraine. Sie alle mussten ihre Heimat verlassen. Zusammen sind sie sind weiterhin die Rockband Metamorphose. Sonja ist 16 und Fan. © privat Foto: Julia Solovieva
Julia Solovieva erzählt in ihrem Feature Awdijiwka Nightmare von Danja, Ilija, Lera, Maxim, Sonja und Vadim, die in der Ukraine auf der Flucht sind.

Joachim Dicks: Bereits im Februar lief das Feature "Awdijiwka Nightmare", das vom gefährlichen Alltag einer Schülerband in der Urkaine erzählt. Besonders spannend fand ich daran, dass die Autorin Julia Solovieva vier Jahre vorher schon einmal eine Sendung über junge Menschen aus dieser ukrainischen Stadt gemacht hatte. Damals, 2019, hieß die Stadt noch auf Russisch Avdeevka und die Sendung entsprechend "Avdeevka Dreaming". Wir haben beide Sendungen nacheinander ausgestrahlt, um diese Vergleichsmöglichkeiten zu bieten, wie der Krieg das Leben verändert hat.
Ein anderer Themenschwerpunkt hat sich im Laufe des Jahres herauskristallisiert, nachdem wir mit der Sendung "Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle" – über Femizide in Österreich bereits Ende 2022 den Fokus auf die erschreckenden Seiten der Geschlechterverhältnisse gelenkt haben. Für dieses Stück haben die Autorinnen Elisabeth Weilenmann und Janina Böck-Koroschitz völlig zu Recht den Juliane-Bartel-Medienpreis erhalten. Wir wiederholen das Feature am 16. Januar.

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Die NDR Autorinnen Janina Böck-Koroschitz und Elisabeth Weilenmannn sind für ihr Radiofeature über Femizide in Österreich mit dem Juliane Bartel Medienpreis 2023 ausgezeichnet worden. © NDR Foto: Michael Matthey

NDR Podcast über Femizide erhält Juliane Bartel Medienpreis

Das Sozialministerium Niedersachsen zeichnete das Radiofeature aus. Die Verleihung fand im Landesfunkhaus Hannover statt. mehr

In eine ähnliche Kerbe schlägt auch die mit dem Prix Europa ausgezeichnete Sendung "Ihre Angst spielt hier keine Rolle - Wie Familiengerichte den Schutz von Frauen aushebeln" von Marie von Kuck. Auch diese Sendung hatten wir im Programm. Ebenso „Giftige Männer - Eine Reise in die Untiefen des Patriachats“ von Lorenz Schröter und Nick-Julian Lehmann. Darin geht es um die belastenden Strukturen des Patriarchats für Männer und Frauen.

Gedenkwand: Ein Zettel klebt an einer Scheibe auf dem "In Gedenken an Dr. Lisa-Maria Kellermayr" steht. Darunter ein kleines schwarz-weißes Portrait einer freundlich lächelnden Dame mittleren Alters. Vor der Wand stehen Kerzen. © picture alliance / VERENA LEISS / APA / picturedesk.com | VERENA LEISS
Die österreichische Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr nahm sich nach Drohungen aus der Impfgegnerszene das Leben. Das Feature von Elisabeth Weilenmann eröffnet einen Blick hinter die Kulissen.

Unter die Haut ist mir auch die Sendung "Lisa Maria Kellermayr – Anatomie einer Entfesselung" gegangen, die auch in diese Reihe passt. Der Suizid der österreichischen Ärztin steht auch in einer langen Tradition der dunklen Seiten des Patriachats. Die Rolle der Sozialen Medien ist in dieser Sendung auch eindrucksvoll belegt.
Ein paar thematische "Ausreißer" aus unserer diesjährigen Featureproduktion möchte ich an dieser Stelle unbedingt in Erinnerung rufen, nämlich "Bescheidene Verhältnisse - Vom Schreiben in Schichten" über Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die neben der literarischen Arbeit noch ganz andere Arbeitswelten kennen. Das großartige Autoren-Duo Martin Becker und Tabea Soergel geben uns darin überraschende Einblicke in das Künstlerinnen-Leben unserer Gegenwart.
Sascha Wundes hat sich für das Feature "Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da - Vom Leben als Nachtbürgermeister" mit einem ganz neuen Berufsfeld auseinandergesetzt und ist dafür auch in das Club-Leben deutscher Großstädte abgetaucht.
Ganz anders - als Counterpart geradezu - hat sich die Autorin Sabine Fringes aufs Land zurückgezogen und erzählt uns in ihrem Feature "Mein Strebergarten - Vom Geben und Nehmen", wie es gelingt, wieder mehr in Eintracht mit der Natur zu leben. Artenreichtum und Klangvielfalt, das wird mir von 2023 in Erinnerung bleiben. Und das wünsche ich mir auch fürs nächste Jahr.

Mit Blick auf den Radio-Nachwuchs arbeitest du auch regelmäßig mit Studierenden der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover zusammen. Daraus entstand 2023 die NDR Produktion "Ruhe jetzt! - Ein Szenenspiel mit Studierenden der HMTMH zwischen Stille, Lärm und Schweigen" von Ina Strelow. Wie gestaltete sich die Arbeit in diesem jungen Team und wie bewertest du das Ergebnis?

Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover produzieren ein Szenenspiel. © NDR
Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover arbeiten im Studio von NDR Kultur an der Featureproduktion "Ruhe jetzt!".

Joachim Dicks: Das Schöne bei dieser Arbeit ist, dass der Teamgeist dabei weit um sich greift. Die Autorin, in diesem Fall Ina Strelow, traf die Schauspielstudierenden, nachdem wir ein Thema vereinbart hatten und führte mit ihnen lange Gespräche. Aus diesem Material entstanden dann die Szenen, Dialoge und die chorischen Elemente, aus denen sich das Manuskript zusammensetzt, ergänzt durch Expertinnen und Experten, die auch für das Stück interviewt worden sind. Dann kamen die Schauspielstudierenden für einige Tage in unser Tonstudio und nahmen unter Anleitung der Regisseurin und des Co-Regisseurs, in diesem Fall Friederike Wigger und Stefan Wiefel, ihre Sprecherteile auf. Für die meisten der Schauspielstudierenden war es tatsächlich das erste Mal, dass sie in einem professionellen Radio-Studio standen und arbeiteten. Allerdings sind sie bereits im dritten Jahr ihrer Schauspielausbildung, so dass sie, was sprechen und gestalten und spielen angeht, schon weit fortgeschritten sind. Durch die intensive Gruppenarbeit entsteht immer eine besondere Intensität. Und das lässt sich am Ende auch in der Sendung hören. Das Thema "Ruhe" passt besonders gut in unsere Zeit, generationsübergreifend. Und das es dabei nicht nur ernst, sondern auch witzig und unterhaltsam zugeht, hat mich dabei besonders erfreut.

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Zwei Personen liegen auf einer Matratze. Über ihnen hängt ein Mikrofon. Man sieht das Bild über einen Monitor. Es handelt sich um Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, die ein Hörspiel produzieren. © NDR

Ruhe jetzt!

Ein Szenenspiel mit Studierenden der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover zwischen Stille, Lärm und Schweigen von Ina Strelow. mehr

Das Feature-Jahr 2023 ist fast vorüber. Die Planung für 2024 ist bereits gut bestückt. Auf welche Themen in 2024 dürfen wir uns jetzt schon freuen und worauf freust du dich?

Joachim Dicks: Das neue Jahr fängt auf jeden Fall gut an und zwar mit der Sendung "Bin ich überflüssig? - Oder: wie ich versuchte, die Arbeit an diesem Feature künstlicher Intelligenz zu überlassen". Der Feature-Autor Jörn Klare hat sich diese Frage gestellt und hat für diese Sendung sein Bestes gegeben, um sich vorzeitig in den Ruhestand verabschieden zu können. Ich kann so viel verraten: das ist ihm nicht gelungen. Aber einmal vorgeführt zu bekommen, wie weit Künstliche Intelligenz inzwischen ist beim Erstellen von Texten und beim Hervorbringen von Stimmen und von Musik, das ist sehr beeindruckend. Nicht nur für mich als Redakteur, sondern auch für den Autor, die Regie und die Schauspieler. Und vor allem für unsere Hörerinnen und Hörer. Denn das eine ist, dauernd von KI erzählt zu bekommen. Etwas anderes ist es, zu erfahren und zu erleben, wo wir da gerade stehen.

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Zwei Hände greifen ineinander. Die rechte Hand ist menschlich, die linke Hand ist aus blauem Metall und mit Scharnieren und Kabeln versehen. Der HIntergrund ist schwarz. © IMAGO / CHROMORANGE

Bin ich überflüssig?

Autor Jörn Klare versucht herauszufinden, wie stark sein Arbeitsfeld als Journalist durch künstliche Intelligenz bedroht ist. mehr

Dann wird eine große Sache eine Podcast-Serie über den Graffiti-Künstler Oz, mit bürgerlichem Namen Walter Josef Fischer, der bis zu seinem Tod vor bald zehn Jahren, vor allem Hamburg mit geprägt hat, aber auch weit über die Stadtgrenzen gewirkt hat. Wie aus Graffiti Kunst werden kann, wie sich der öffentliche Raum dadurch verändert und auch politische Grundsatzdebatten entfacht und was das Ganze mit Rhythmus und Musik verbindet, davon erzählen uns die Oz-Autoren Kai Sieverding und Sven Stillich. Darauf bin ich sehr gespannt.

Porträt der Regisseurin Elisabeth Weilenmann. © NDR Foto: NDR
Autorin Elisabeth Weilenmann erhielt 2023 den Juliane-Bartel-Medienpreis. 2024 beschäftigen sie die Gefahren der digitalen Welt.

Und dann wird uns die Juliane-Bartel-Medienpreis-Gewinnerin Elisabeth Weilenmann in ihrem neuen Stück über die Gefahren der digitalen Welt für die nachwachsende Generation erzählen. Die hohe Zahl an psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Burnouts unter jungen Menschen, die viel Zeit an ihren Handys und Computern verbringen, ist Grund genug, sich dieses Themas mal intensiv zuzuwenden.

Auch die Sendung "Lieber Enno! – Nachrichten an einen Sohn aus unbekanntem Gelände", die für Mai geplant ist, erwarte ich mit großer Spannung. Es basiert auf den Tonaufnahmen, die der Autor Dennis Kastrup mit seinem Freund Frank gemacht hat, in den Jahren, bevor Frank an Krebs verstorben ist. Enno heißt Franks Sohn und er war noch ein Baby beim Tod des Vaters. Dieses Feature ist adressiert an diesen Sohn, stellvertretend für alle, die mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen Erfahrung haben. Hier kommt Vieles zusammen: Trauer, Schmerz, Freundschaft, Liebe, Leben. Also alles, was wirklich zählt.

Abschließend gib uns bitte noch eine Empfehlung: In welcher Alltagssituation können Feature gut gehört werden: in der Hängematte, während einer langen Autofahrt, beim Einschlafen, beim Arbeiten… nebenbei oder besser mit voller Aufmerksamkeit?

Eine kleine Kerze vor vielen herzformigen Lichtern. © fotolia.com Foto: Evgenia Smirnov
Joachim Dicks' Tipp: Bei Kerzenschein hört sich ein Feature im Winter besonders gut.

Joachim Dicks: Na, am besten natürlich mit voller Aufmerksamkeit. Die stellt sich eventuell auch in der Hängematte oder auf der Couch ein. Bei Autofahrten habe ich früher immer sehr gern Feature gehört, aber das ist zwanzig Jahre her. Seitdem komme ich ohne Auto zurecht. Vorm Einschlafen rate ich ab.
Ist es ein sehr gutes Feature, lässt es einen nicht einschlafen; ist es ein gutes Feature, könnte es aber doch zum Einschlafen kommen. Und das wäre doch schade. Da verpassen wir dann ja was. Während der Arbeit auf keinen Fall. Denn Multi-Tasking ist Körperverletzung! Ich höre Feature gern beim Kochen oder beim Abwasch. Oder in Pausen im Meditationssitz beim Kerzenschein mit geschlossenen Augen. Gerade im Winter. Das erhöht die Hörintensität. 

Immer dienstags um 20 Uhr hören Sie die Feature im Radioprogramm von NDR Kultur. Danach stehen sie ein Jahr lang online zum Download in der ARD Audiothek und in der NDR Feature Box.

 

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Cover: NDR Feature Box © NDR

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Der Podcast zum Abtauchen und Aufhorchen: Porträts und Skandale, Geschichten und Recherchen als Download. mehr

Das Interview führte Jennifer Philipps, NDR Kultur.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Feature | 02.01.2024 | 20:00 Uhr

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