Wallfahrt zu Zeugnissen von Spekulanten-Wahnsinn in Hamburg
Das Holsten-Areal, die Fläche der ehemaligen Esso-Hochhäuser, der halbfertige Elbtwower: Hamburg ist nicht nur reich an Sehenswürdigkeiten, sondern auch an Zeugnissen von Investoren-Wahnsinn, wie ein Künstlerkollektiv zeigt.
Ein großer LKW fährt vor auf dem Hof des Kampnagel-Theaters. "Das Wunder von Hamburg" steht groß auf der einen Seite des Trucks geschrieben. Die andere Seite ist eine Glasfront. Über kleine Treppen tapsen die Besucher ins rollende Theater: drei Sitzreihen hintereinander - und hinter dem großen Fenster die Stadt als Bühne.
"Geisterbahn" zu den Bauruinen der Stadt
"Das ist natürlich abgefahren. So hab ich noch nie auf die Straße geschaut und auf die Stadt", sagt einer der Fahrgäste. Eine andere Frau findet einen passenden Vergleich: "Von der Einstimmung her ist es ein bisschen das Gefühl wie in der Geisterbahn. Die Musik ist so unheimlich, man sitzt in so einem komischen grauen Kasten hier."
Zum Gruseln gibt’s genug, denn die Tour führt vorbei an den Bauruinen und Brachen Hamburgs, zum Beispiel dem Holsten-Areal oder den ehemaligen Esso-Hochhäusern - seit zehn Jahren eine leere, inzwischen überwucherte Fläche mitten im Herzen St. Paulis. Über Kopfhörer lauschen die knapp 50 Gäste einem Hörspiel.
Neoliberale Stadtentwicklung?
"Die Stadt ist nicht, was Sie in ihr sehen. Sie ist etwas, das alle in ihr sehen. Ich sehe nur Trümmer, die sich auf Trümmer häufen. Wo andere Möglichkeiten sehen, aus Geld mehr Geld zu machen, sehe ich Ruinen", klingt es aus dem Kopfhörer.
Sie wollten eine Art Stadtrundfahrt durchs Hamburg der Investoren schaffen, sagt Ole Frahm vom Künstler-Kollektiv LIGNA, ein anderes Hamburg als üblich zeigen: "...die neoliberale Stadt, die eigentlich nur nach Marktkriterien Stadt entwickelt, und nicht nach den Kriterien derer, die dort wohnen."
Doch wirkt die Stadt ironischerweise gerade durch das Fenster des Theaterbusses menschlich und lebendig, so wie ein Wimmelbild: Familien auf Spielplätzen, Jogger an der Alster, Trubel in der Sternschanze. Weiter geht’s zum Neubau der Gänsemarkt-Passage - hier wurden vor rund einem Jahr die Arbeiten gestoppt.
Plädoyer für die Mitgestaltung
"Dem Bauherren René Benko, also seiner Signa, waren nicht nur die Investoren abgesprungen, sondern auch die Mieter der schönen neuen Premium-Office-Flächen im Herzen der Stadt. Die Banken geben keine Kredite mehr. Alles steht still", ist da wieder über Kopfhörer zu hören.
Das tragische Finale dieser ungewöhnlichen Stadtrundfahrt – na klar, der Elbtower. Und hier offenbaren die Macher, was sie mit dem "Wunder von Hamburg" meinen könnten: "Das eine Wunder ist eben, dass tatsächlich überhaupt jemand wie René Benko sowas anfangen kann zu bauen wie den Elbtower, weil wirklich alles dagegen sprach", sagt Ole Frahm. Schließlich habe es ganz viele "red flags" gegeben, die die Stadt Hamburg aber offensichtlich ignorierte. "Ein anderes Wunder wäre aber für uns, wenn die Leute tatsächlich sich zusammentun würden und sich die Stadt wieder aneignen würden."
Fahrgäste werden selbst zu Darstellenden
Sind es noch Fahrgäste oder schon Theaterbesucher? Egal, jetzt steigen sie jedenfalls alle aus und werden selbst zu Darstellenden. Hier, mit bestem Blick auf das unvollendete Elbtower-Skelett, fordert die Stimme sie über die Kopfhörer zum Tanzen auf.
Die Fahrgäste - oder Theaterbesucher - stimmt es nachdenklich: "Was ich schön fand an dieser Idee war, Stadt poetisch wahrzunehmen und zu sagen: Holt sie euch zurück. Bewegt sie, verändert sie, sie gehört den Menschen!", resümiert eine Besucherin. Ganz ähnlich geht es ihrem Begleiter: "Ich finde das Poetische schön, aber ich finde die Verhältnisse zum Himmel schreiend." Hier kann alle Wut rausgetanzt werden, menschlich, ausgelassen - mit dem starren Betonriesen im Hintergrund.
Systemkritik und ein Funken Hoffnung
"Das Wunder von Hamburg" bietet einen bewegten neuen Blick auf die Stadt zwischen Mensch und Kapital, mit fundierter Systemkritik und einem Funken Hoffnung. Die aktuellen Tickets sind bereits ausverkauft, im Dezember aber gibt es eine Wiederaufnahme.