"Das Dorf Ding": Theater Heersum - Ein ganzes Dorf spielt Shakespeare
Die Mitglieder des Forum Heersum in Niedersachsen sind schon seit vielen Jahren aktiv und machen tolles, fantasievolles Open-Air-Theater. In diesem Jahr spielen sie in Rössing/Nordstemmen den "Sommernachtstraum", frei nach Shakespeare.
In Heersum macht ein ganzes Dorf zusammen Theater - klingt super! "Seit 1994, glaube ich, gibt es diese Scheune. Da hatten wir anfangs nur ein kleines Fach", erzählt Jürgen Zinke, Geschäftsführer vom Forum Heersum. 30 Jahre Theatergeschichte ungefähr.
Moderatorin Julia Westlake war lange Statistin am Lüneburger Stadttheater. Deshalb springt ihr direkt ein Baumkostüm ins Auge. "Die Rinde hier war täuschend echt, sodass man das gar nicht unterscheiden konnte. So sah es wirklich so aus, als wenn der Baum sprechen konnte", erklärt Zinke. Dann erfährt sie eine total kuriose Geschichte: "2014 waren wir auf Einladung des Papstes in Rom und haben tatsächlich eine Privataudienz gehabt. Der Dom ist für das Theaterstück 'Im Namen der Rose' vom Papst gesegnet worden - ein fünf Meter hoher Dom aus Hildesheim", erzählt Zinke. Der Heilige Sack von Heersum.
Dorfgemeinschaft stärken durch Theater
Bei den Heersumer Sommerspielen darf jeder mitmachen, vor und hinter der Bühne. Hier in der Werkstatt arbeiten Ehrenamtliche gemeinsam mit professionellen Bühnen- und Kostümbilder*innen. Im richtigen Leben arbeitet Brigitte als Grafik-Designerin: "Mit Schauspiel hatte ich sonst nie viel zu tun. Ich war auch nicht in der Theater-AG, aber es ist wirklich etwas, was jeder machen kann. Der Reiz ist auch, dass man mit vielen Leuten, die bunt zusammengewürfelt sind, die man vorher überhaupt nicht kannte, plötzlich so etwas Großes zusammen macht und erlebt. Das ist echt toll."
Sie erzählt weiter: "Das Forum gibt es jetzt schon seit so langer Zeit. Wenn man hier mit Leuten spricht, haben die alle irgendwann mal mitgemacht. Jeder Bauer und jeder Rentner kann erzählen, wann er irgendwo im Feld oder in den Rüben stand und ein Kostüm trug. Das ist etwas Besonderes. Wir hatten hier einen Herren im Dorf, der einen König gespielt hat. Das war so eine beeindruckende Rolle, dass jeder im Dorf nur noch sagte, wenn er um die Ecke kam: 'Der König kommt'. Das ist der nicht mehr losgeworden."
Brigittes ganze Familie ist auch dabei. Sohn Emil arbeitet in der Technik. Die Zeit drängt, die Klappstühle werden am Spielort in Rössing gebraucht. Auf der Fahrt durch die Dörfer sieht man überall lustige Kunstwerke: die Elbphilharmonie und jede Menge U-Bahn-Stationen - überall dort, wo die Sommerspiele schon mal gastierten.
Shakespeares "Sommernachtstraum" in einem Schlossgarten
Den "Sommernachtstraum" in einem echten Schlossgarten zu inszenieren: Das passt. Tita von Rössing ist die Schlossherrin. Sie war auch viele Jahre Bürgermeisterin in Rössing. "Ich lebe hier in diesem Riesending alleine", sagt Tita von Rössing. "Ich erfreue mich zwar daran, aber wenn man sich mit 500 Leuten freuen kann, ist das doch viel schöner." Sie stellt auch die Räumlichkeiten zur Verfügung. "Wir haben in dem Bereich auch noch einige ukrainische Flüchtlinge leben. Die finden das Projekt auch total klasse und unterstützen das, indem aus deren Zimmern auch gespielt werden kann." Tita von Rössing versucht also, das Schloss ins Heute zu holen und wieder neu zu beleben.
Tita stammt aus Ecuador. Sie hat sich hier in Rössing verliebt, geheiratet und ist geblieben. Früher war viel Leben im Schloss. Ihre Schwiegereltern wohnten auch dort und sie hat vier Kinder groß gezogen.
Das Theater habe den Ort nachhaltig verändert: "Es gucken viele Leute viel genauer auf alles. In jeder Ecke ist irgendwas versteckt. Wenn ihr später spazieren geht, seht ihr, dass überall kleine Feen, Figuren, Elfen in den Winkeln stecken. Im Park ist überall etwas zu entdecken. Wir werden einen emotionalen Kater haben, wenn das vorbei ist. Bei jeder Aufführung ist es so, dass man sich regelrecht in einen Rausch spielt. Jedes Lachen vom Publikum, jedes Klatschen am Schluss: Diese gemeinsame halbstündige Schluss-Sequenz ist so berauschend, verbindend, dass ich erst Stunden danach ins Bett gehen kann, weil das so ein Wow-Gemeinschaftserlebnis ist."
Als Landwirt auf den Trecker steigen und als Künstler wieder runter
Gudrun kümmert sich um die Qualitätskontrolle und die gesamte Disposition. Bei diesen vielen Menschen, hinter den Kulissen und vor den Kulissen, wie schafft sie das? "Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass man das alles schaffen kann, was wir alles machen, wenn man nicht so viele Leute hätte, die mitmachen und mitdenken und kurz vor knapp noch mal eine Rakete zünden", sagt sie.
Spielflächen für ein Landschaftstheater zu finden, sei richtig schwierig. Die meisten Landwirte wollen nicht, dass Hunderte Menschen kurz vor der Ernte in ihren Feldern rumstapfen. "Mein Hauptanliegen bei solchen Sachen ist: Wenn man nicht ein bisschen auf die Menschen zugeht, werden wir es nie schaffen, so etwas umzusetzen", sagt Zinke. "Es ist manchmal so, dass sie als Landwirte auf den Trecker steigen und als Künstler wieder runter."
An der anderen Ecke von Rössing macht sich Tita fertig. Sie spielt später den Geldregen. Noch eine Stunde. Aus allen Ecken des Dorfes strömen Schauspielerinnen und Schauspieler zum Treffpunkt am Zirkuswagen. Was für ein buntes Treiben. Alle sind mit viel Leidenschaft und Begeisterung dabei. Die Kostüme sind übrigens alle selbst gebastelt.
Moderne Shakespeare-Interpretation mit einer Ölheizung
Dagmar spielt im Sommernachtstraum eine Ölheizung - offensichtlich eine ziemlich moderne Interpretation. "Es ist eine tolle Rolle, auch wenn sie einen ein bisschen behindert, Gefühle transportieren zu können", erzählt Dagmar. "Die Ölheizung hat viele Gefühle und gibt eine große Palette an Gefühlen her. Wir haben heute die zehnte Vorstellung und ich gucke vorher immer noch in den Text und ins Handy. Ich bin immer noch aufgeregt. Bei den anderen ist es schon so, dass sie cooler werden. Ich werde nicht cooler."
Alle wissen genau, was sie wo zu tun haben - und das bei 150 Mitwirkenden! Um 18 Uhr geht es los. Das Publikum trifft sich am Bahnhof in Barnten. Shakespeare begrüßt das Publikum: "Die Welt in Scherben fällt und neu sich fängt im flackernden Licht des Mondes." Die Shuttlefahrt nach Rössing ist eine Fantasiereise. Über Kopfhörer gibt es kryptische Anweisungen - und dann gehen alle mit ihren Klapphockern zur ersten Szene.
Hinter dem Publikum auf der Wiese bringt Tita sich schon in Position. Umgedreht, und weiter geht es. Insgesamt sechs Stationen werden im Laufe des Abends abgelaufen. Die verzauberte Titania verliebt sich ausgerechnet in eine Ölheizung. Es ist eben ein Traum:
"Ihretwegen hab ich meinen Job verloren."
"Wissen Sie? Als alte Ölheizung können Sie jetzt eigentlich nur noch stempeln gehen."
"Oh watt? Ich war Chefheizerin in der Traumfabrik von Oberon und Titania."
Bühnenzitat
Die Vorstellung heute Abend ist restlos ausverkauft. Jetzt ist erst mal Pause. Für die Ölheizung lief bisher alles reibungslos: "Es war natürlich total warm. Mir lief wirklich die Soße ins Gesicht." Aber als Ölheizung müsse man auch ein bisschen schwitzen.
Jede Vorstellung ist anders
Es erscheint wirklich wie ein "Sommernachtstraum". Was für ein beeindruckendes Setting, dazu der laue Sommerabend. Im Schlossgarten gibt es für alle eine Stärkung - alles von der Dorfgemeinschaft organisiert. "Es ist wieder total schön", sagt Tita. "Jede Vorstellung ist irgendwie anders. Heute ist es schneller. Ich hatte das Gefühl, es ist weicher - im Sinne von: Das Publikum reagiert viel offener und herzlicher. Es ist wirklich witzig."
Dann folgt das Finale mit dem großen Auftritt von Dagmar, der Ölheizung. Es war ein großartiges Erlebnis, dieser Theaterspaziergang durch Rössing. Was für eine Meisterleistung dieses Dorfes! Moderatorin Julia ist schwer beeindruckt.
Gespräch mit Regisseur Uli Jäckle: "Laien sind Expert*innen ihrer selbst"
Julia Westlake: Uli, du bist der Regisseur dieses gigantischen Projekts. Es gibt keine kleine Bühne, sondern einen riesigen Park. Was reizt dich daran?
Uli Jäckle: Das Reizvolle ist, dass man ein Theater macht, bei dem die Leute mittendrin stehen, wo um sie herum alles passiert und wo die Bühne-Zuschauer-Situation aufgelöst ist. Dann gefällt mir, dass man in der Natur spielt und dass die Einflüsse von außen eine Rolle spielen. Sie verändern jede Aufführung; jeder Abend ist anders.
Das stelle ich mir total schwer vor, weil du dich auf so viele Gegebenheiten vorher im Probenprozess einlassen musst.
Jäckle: Ja, aber das ist gerade schön. Es ist nicht wie am Stadttheater, wo ich irgendwie so eine Frickelarbeit mache, sondern man muss groß denken, man muss groß handeln. Das ist eigentlich das Reizvolle an dieser Form von Theater. Vor allem geht es nur, wenn man in Kontakt tritt mit den Bürgerinnen und Bürgern, wenn man sie ernst nimmt, als Menschen, als Expert*innen ihrer selbst.
Wie kriegst du die Laienschauspielerinnen und Laienschauspieler dazu, das zu machen, was du dir vorstellst?
Jäckle: Ich behaupte, in gewisser Weise sind es doch Profis - wenn es nämlich um sie selber geht, wenn sie sozusagen Expert*innen ihrer selbst sind. Sie erzählen etwas aus ihrem Leben, was wir auf der Bühne verkürzen und verdichten. Man kann alles damit machen, aber der Kern ist etwas aus ihrem Leben und das lässt sie wahrhaftig erscheinen. Es geht darum, dass man ihnen erst mal eine Art Haus baut, ihnen eine starke Form gibt. In dieses Haus macht man Fenster und eine Tür rein. Dann kommt da frische Luft rein und dann bauen die das Haus selber auf. Das ist das Tolle: dass man das miterlebt. Es ist eine ganz andere Arbeit als mit Profis. Bei diesen Schauspielerinnen und Schauspielern ist immer das wahre Leben dabei und ich freue mich immer, was da alles rauskommt.
Was ist zuerst da? Das Stück und dann die Location oder erst die Location und danach sucht ihr aus?
Jäckle: Hier im "Sommernachtstraum" passt diese Schlossambiente natürlich wunderbar. Aber wir machen es mal so, mal so. Schon oft haben wir sehr spezielle Orte gefunden. Mein Lieblingsort war auf einer Mülldeponie. Das ist natürlich ein kleiner Kontrast zu hier.
Wie viele Leute machen hier insgesamt überhaupt mit?
Jäckle: Bei dem Stück in Rössing sind ungefähr 80 Personen dabei. Wir waren aber auch schon 300 Leute.
Wie kriegt man die alle unter einen Hut?
Jäckle: Der Reiz ist erst einmal, dass wir sagen: Jeder, der mitspielen will, darf auch mitspielen. Das ist ein Riesenunterschied, wenn ich ins Bürgertheater oder ins Stadttheater gehe. Bei uns darf jeder mitmachen und das ist gerade das Schöne, dass sie ganz viel Authentisches, Ungelenktes mit sich bringen. Wenn man das liebevoll verpackt, ist das genau das, warum die Leute kommen.
Da brauchst du für deinen Job natürlich enorm viel Fingerspitzengefühl?
Jäckle: Ja, das stimmt. Es ist eigentlich auch ein theaterpädagogisches Projekt. Für mich ist es erst einmal eine reine Kunstproduktion und das sind für mich die Mittel, die ich zur Verfügung habe. Die Soziokultur nimmt man einfach mit. Wenn die Leute hier Theater spielen, verändern sie sich auch. Sie reden noch in Jahren davon. Das sind für sie Erlebnisse, die sie ihr ganzes Leben mit sich tragen. Wir haben diverse Talente, die dann in ein Ensemble nach Berlin gegangen sind. Ich sage immer: Jedes kleine "Pissdorf" hat ein verstecktes Potenzial an genialen Schauspielern. Man muss sie nur finden und die müssen Bock darauf haben.
So verändert ihr auch Biografien?
Jäckle: Ja, ganz extrem. Es ist auch eine Therapie, nicht nur für die Spielerinnen und Spieler, auch für mich, auch für andere, die mitmachen. Das glaube ich. Da entsteht eine ganz andere Herzlichkeit, weil da immer ein Stück Einmaligkeit drinsteckt. Wenn ich im Stadttheater was mache, ist es Professionalität, aber das hier ist schon sehr speziell. Das muss man sagen.
Den "Sommernachtstraum" kennen wir eher klassisch. Was habt ihr euch gedacht? Wie setzt ihr den um?
Jäckle: "Wenn die Leute wissen, das Forum spielt den Sommernachtstraum", erwarten sie, dass wir etwas anderes machen. Die Grundgeschichte ist bei uns so: Es tritt Shakespeare auf und er will mit seiner Feder den "Sommernachtstraum" neu schreiben. Dabei gerät ihm das Ganze aus den Fugen, die Feder wird verloren und in der ganzen Welt bricht ein Chaos aus. Wir haben sozusagen eine Mischung gemacht. Vom Shakespeare-Text ist vielleicht noch ein Fünftel drin, der Rest ist von mir, wobei ich natürlich immer versucht habe, so zu schreiben wie Shakespeare. Ich habe gedichtet und das hat großen Spaß gemacht. Und wir haben natürlich Dinge neu erfunden, zum Beispiel die Handwerker sind bei uns Wärmepumpenvertreter, also immer auch ein kleiner aktueller Aspekt mit drin.
Welche Rolle spielt Humor bei euch?
Jäckle: Humor ist ein ganz wichtiger Aspekt. Jeder Satz muss ein Lacher sein. Aber der Humor funktioniert vor allem besonders gut bei uns in Verbindung mit der Poesie des Ortes und mit der spannungsgeladenen Handlung von Shakespeare. Man erkennt Shakespeare wieder und trotzdem findet man die Gegenwart.