"Wildhof": Eine junge Frau sucht Frieden mit ihrer Vergangenheit
Eine 30-jährige Frau muss das Haus ihrer Eltern auflösen. Wer an dieser Stelle denkt: "Kenn ich, hab ich schon mal gelesen" - der irrt sich. Eva Strasser findet ganz neue Töne für eine bekannte Geschichte.
Lina war schon lange nicht mehr in diesem Haus im Schwarzwald. Sie hat sich mit ihren Eltern überworfen und ist mit 18 Hals über Kopf in die Großstadt gezogen. Dort kann sie so zurückgezogen leben, wie sie möchte. Lina baut Internetseiten, sie ist gefragte App-Entwicklerin. So gefragt, dass sie sich manche Sonderbarkeit leisten kann. Manchmal gibt sie Geräusche von sich.
Sie knurrt. Tief und dunkel klingt das. Eine Warnung an die Welt. Leseprobe
Manchmal rastet sie aus. Als sie entdeckt, dass der Praktikant brutale Videos dreht und postet, treibt sie ihn ins Obergeschoss und will ihn aus dem Fenster stürzen. Eine Anklage bringt ihr sechs Monate auf Bewährung ein.
Schmerzhafte Rückkehr ins Elternhaus
Sie hat viel dafür getan, sich besser in den Griff zu bekommen: Yoga, Atemtherapie, Sport. Schon länger hat sie keine Tür mehr eingetreten vor Wut. Aber jetzt wird es wieder brenzlig. Das Haus auszuräumen, nachdem die Eltern bei einem Unfall gestorben sind, das konfrontiert sie mit Erinnerungen, die sie mit aller Macht in sich verschlossen hat. Im Ort trifft Lina auf alte Freunde, die sie unterstützen wollen.
Sie zwingt sich zu einem Lächeln, sie muss das unbedingt mal vor dem Spiegel üben, sie sollte ein normales Lächeln drauf haben, das auch wirklich aussieht wie ein Lächeln und nicht wie Zahnschmerzen, das gehört doch zur Grundausstattung. Leseprobe
Die Freunde waren früher täglich um Lina und ihre Zwillingsschwester Luise herum. Bis Luise mit 13 Jahren verschwand - ein Schock für den ganzen Ort. Zwei Jahre wurde vergeblich nach ihr gesucht. Die Mutter fing an zu trinken, Lina versteinerte.
Und jetzt muss sie das Haus betreten. Jedes Zimmer erzählt eine Geschichte, allein vom Geruch wird ihr schlecht. Sofort stellt sie eine Verkaufsanzeige ins Netz, sie muss die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Und vorher noch die Eltern beerdigen, im Friedwald.
Grabschmuck gibt es nicht, die Natur schmückt das Grab mit dem, was sie gerade hat. Laub, Pflanzen, Schnee. Das wars. (…) Ein Waldspaziergang mit Bestattungseinlage. (…) Und dann sieht Lina das Reh. Ganz kurz, es hebt den Kopf. Leseprobe
Das Reh hat sich schon ein paar mal gezeigt in diesen Tagen, so wie früher. Luise und Lina mochten es sehr, niemand außer ihnen konnte es sehen: eine prächtige Rehkönigin.
Surreale Begegnungen und eine überraschende Wendung
Eva Strasser hat einen sehr gelungenen rotzigen Tonfall gefunden, um uns die einsame Lina nahe zu bringen. Wir erleben sie kopflos, wenn sie sich im Unwetter in Lebensgefahr bringt, aber auch hingezogen zu einem Kaufinteressenten, einem Musiker. Mit jeder Buchseite wollen wir mehr von ihr wissen und unbedingt vom Verschwinden ihrer Zwillingsschwester. Einige beunruhigende Dinge passieren, der vermoderte Fußball im Garten ist plötzlich aufgepumpt, die verstaubte Uhr tickt wieder. Für die erfahrene Leserin hätten die surrealen Begegnungen etwas kürzer ausfallen dürfen, für Jüngere dürfte diese Form von Fantasy gerade reizvoll sein. Mit einer überraschenden Wendung illustriert Eva Strasser eine alte Weisheit: Erst mit dem Verstehen der Vergangenheit kann etwas Neues beginnen.
Wildhof
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Wagenbach
- Veröffentlichungsdatum:
- 20. Februar 2025
- Bestellnummer:
- 978-3-8031-3373-1
- Preis:
- 22 €
Schlagwörter zu diesem Artikel
Romane
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