Roman "Vor einem großen Walde": Eine wilde Reise nach Georgien
Leo Vardiashvili spart nicht mit Effekten, er packt viel hinein in diesen Roman an Herz, Schmerz, Action und Märchen. Der georgische Autor hat sichtlich Spaß daran, die Spannung zu schüren.
Wie der Autor ist Saba, der Erzähler der Geschichte, Anfang der 1990er-Jahre während des Bürgerkriegs aus Georgien nach Großbritannien gekommen, mit seinem Vater Irakli und dem älteren Bruder Sandro. Ohne die Mutter, Eka:
"Wo ist Eka?" Das haben wir bestimmt tausendmal gefragt. Unsere Mutter ist geblieben, damit wir fliehen konnten. (...) Das Land zu verlassen bedeutete fragwürdige Bestechungsgelder, gestohlene Reiseerlaubnisse und gefälschte Bescheinigungen. Das Geld, das unsere Familie zusammenkratzen konnte, reichte kaum für ein Elternteil und uns Kinder. Eka hatte nicht einmal einen Pass. Gemeinsam konnten wir also nicht ausreisen. Leseprobe
Wie vom Erdboden verschluckt
Irgendwann stirbt Eka in Tbilissi, ohne dass die Familie noch einmal zusammenfindet. Elf Jahre nach ihrem Tod hält Irakli es schließlich nicht mehr aus und fliegt nach Georgien. Kein Grund zur Aufregung für die inzwischen erwachsenen Söhne, bis sie schließlich eine letzte, mysteriöse Nachricht erreicht, in der Irakli die beiden auffordert, nicht nach ihm zu suchen. Genau das tun sie dann jedoch. Erst folgt Sandro dem Vater, und als auch er wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint, Saba. Schon der Flug ist seltsam, bei einer Kontrolle wird Saba der Pass abgenommen, und man fordert ihn auf, sich in Tbilissi bei einem Kommissar zu melden. Am Flughafen steigt er in den klapprigen Wartburg von Nodar, nicht ahnend, dass der Zufallsbekannte ihn auf seiner wilden Reise lange begleiten wird:
Als wir die Innenstadt von Tbilissi erreichten, begann ich Dinge wiederzuerkennen - eine bröckelnde Straßenecke oder ein Gebäude oder eine bestimmte Kurve. Gleichzeitig erkannte ich überhaupt nichts wieder. So wie sich Zähne anfühlen, wenn der Zahnarzt einen nach Hause schickt mit ungewohnten Kanten, an denen man dann mit der Zunge rumspielen kann. Leseprobe
Was bedeuten die rätselhaften Spuren?
Saba kommt bei Nodar unter und macht sich mit ihm auf die Suche nach Sandro. Der hat dem Bruder, wie er bald feststellt, versteckte Hinweise hinterlassen: eine rätselhafte Spur, bestehend aus Graffitis, Seiten aus einem von Irakli einst geschriebenen Text und Verweisen auf "Hänsel und Gretel" und die Brotkrumen, die diese auf dem Weg in den düsteren Wald ausstreuten. Saba scheint zunächst überfordert. Seit er in Tblissi ist, hört er im Kopf die Stimmen seiner längst verstorbenen Verwandten.
"Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet zum Berg gehen." Ich erkenne die Stimme wieder. Das ist Ansor, mein achtfingriger, eiserner Onkel. "Hörst du mich, Sabo?" Er nennt mich immer Sabo statt Saba (...) "Ich will nach Hause, Ansor." "Du bist doch zu Hause." "Ich meine London." Leseprobe
Mit Macht melden sich die Erinnerungen zu Wort, der lange unterdrückte Schmerz, die Mutter nie wieder gesehen zu haben. Dazu kommen die Angst um Vater und Bruder. Warum werden die beiden von der Polizei gesucht? Von Saba erhoffen sich die Behörden, dass er sie zu ihnen führen wird, denn er ist der Einzige, der Sandros Spur lesen kann. Und die endet nicht in Tbilissi.
Mischung aus Thriller und düsterem Märchen
Leo Vardiashvili führt seinen Erzähler und Nodar durch Berge und dichtesten Wald bis nach Ossetien. Die zahlreichen, kriegerischen Konflikte in der Region nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reißt er nur an. Es gibt immer wieder erklärende Einschübe, aber es entsteht kein differenziertes Bild. Umso deutlicher führt der Autor die Folgen vor: Saba und Nodar erleben Gewalt und Verwüstung, unendliches Leid und werden den Trip nicht gemeinsam zu Ende bringen.
Vardiashvili hat sichtlich Spaß daran, die Spannung zu schüren. "Vor einem grossen Walde" ist eine Mischung aus Thriller und düsterem Märchen, handlungsgetrieben, schnell, fast filmisch. Dazu kommt das nicht ganz kitschfreie Familiendrama, das jedoch gerade in diesen Zeiten von Flucht und Krieg verstörend aktuell ist. Doch Saba findet seinen Weg:
Ich werde damit klarkommen. Vorerst kann ich nichts anderes tun, als die Augen zu schließen und zu fühlen, wie der Wind mich durchbläst. (...) Der Motor heult auf und schleudert uns voran in die Nacht, immer schneller, Richtung Tblissi. Leseprobe
Vor einem großen Walde
- Seitenzahl:
- 464 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
- Verlag:
- Claassen
- Bestellnummer:
- 978-3-546-10094-6
- Preis:
- 25 €