Vladimir Sorokins "Doktor Garin": Atemloses Lesevergnügen
Das Erstaunlichste an Vladimir Sorokins Buch "Doktor Garin" ist, dass es nicht nur atemlos ist, sondern auch vollkommen leb- und emotionslos. Ist genau das der vielleicht größte Trick des literarischen Magiers?
Der originellste aller zeitgenössischen russischen Schriftsteller heißt seit über 30 Jahren Vladimir Sorokin. Seine tabulose, experimentelle Prosa machte ihn zunächst zu einem Liebling von Freunden avantgardistischer Literatur. Doch erst nachdem konservative russische Hurra-Patrioten ihn 2002 der Pornografie bezichtigten, wurde Sorokin zu einem großen Star: Skandale wechselten sich ab mit literarischen Preisen, die Auflagen schossen in die Höhe. Seit 2022 ist all das vorbei: Nach dem Angriff auf die Ukraine erklärte Sorokin in Berlin, er werde nicht mehr nach Russland zurückkehren. Wie lange seine Bücher noch in Russland verkauft werden, steht in den Sternen. Jetzt ist sein Roman "Doktor Garin" auf Deutsch erschienen.
Die Welt ist ein Schlachtfeld
Zehn Jahre sind im Leben von Doktor Garin vergangen. Zehn Jahre aber auch, seit die deutschen Leser dem charismatischen Arzt mit Kneifer zuerst begegnet sind. In seinem Roman "Schneesturm" hatte Vladimir Sorokin Garin hinaus in den russischen Winter geschickt. Garin sollte die bolivianische Pest bekämpfen, die in einem kleinen Dorf namens Dolgoje ausgebrochen war und die Menschen in Zombies verwandelte. Doch dort kam Garin nie an, ein Schneesturm nahm ihm beide Beine.
Zehn Jahre später stiefelt Doktor Garin putzmunter auf Titanbeinen durch das Nobel-Sanatorium "Altai-Zedern". Wir sind immer noch weit in der Zukunft, irgendwo in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Nach den "Drei Kriegen" und diversen Revolutionen ist die Welt ein Schlachtfeld und Russland zerfallen. All das scheint weit weg im herrlichen Altaigebirge. Aber ein Blick auf Garins prominente Patienten macht klar: In der Welt muss einiges schief gelaufen sein.
Donald als großer, weißer Hintern
Da ist zum Beispiel Donald, den Garin bei der Visite vor dem Spiegel antrifft:
Der Patient namens Donald war ein großer, weißer, stellenweise mit winzigen rötlichen Sommersprossen gesprenkelter Hintern. Am oberen Teil dieses Hinterns saßen ein riesiger Mund mit wulstigen Lippen, eine Art flache Nase mit Nasenlöchern und weit auseinanderstehende, durchaus schöne Augen, etwa fünfmal so groß wie normale menschliche Augen. Aus den runden Seiten des Hinterns reckten sich zwei dünne, biegsame Arme mit vier-fingrigen Händen. Leseprobe
Donald ist einer von insgesamt acht "pbs" oder "political bodies", die von Doktor Garin betreut werden. Die andern sieben sehen ähnlich aus und heißen Silvio, Angela, Emmanuel, Boris, Shinzo, Justin und Vladimir. Doktor Garin und Sorokin haben viel Spaß mit den früheren Staatschefs der G8.
Patient Vladimir antwortet auf jede Frage mit demselben Satz:
"Ich war’s nicht." Leseprobe
Silvio kann gar nicht genug von Garins elektrischer Spezialbehandlung bekommen:
"Signor dottore, please, der blackjack!" Leseprobe
Boris wiederum verlangt von Angela mehr Hingabe bei einem Furzwettbewerb:
"Zeig uns die Macht der Walküre!" Leseprobe
Scherze wie diese sind, genau wie burleske Sex- und Drogenszenen, seit langem ein Markenzeichen von Vladimir Sorokin. Auch in "Doktor Garin" bestaunt man seine ruchlose Erfindungsgabe.
Abenteuer, wie sie nur Sorokin schreiben kann
Aber weil die Welt ist, wie sie ist, wird das famose Treiben bald rüde unterbrochen.
"Haben Sie schon die Neuigkeiten aus Schemonaicha gehört?"
"Nein."
"Die Kasachen haben ein Ultimatum gestellt."
"Nämlich?"
"Wenn die Altaier nicht bis 6:00 Uhr morgens das Nordufer der Uba aufgeben und ihre Position um 62 km zurückverlegen, behalten die Kasachen sich das Recht vor, taktische Atomwaffen einzusetzen."
Leseprobe
Genau das passiert und Doktor Garin und seine Schutzbefohlenen müssen fliehen. In der Folge entfaltet sich ein Abenteuerroman aus altem Schrot und Korn. Allerdings einer, wie ihn nur Vladimir Sorokin schreiben kann: Es gibt grandiose Gefechte und Duelle. Garin findet die Liebe und verliert sie wieder. Es gibt Bio-Roboter namens Majakowski, Anarchisten hinter Stacheldraht und russische Fürsten aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt Hologramme, Drogenhändler und lebende Minen, einen Boulevard der aufständischen Henker, Massenmasturbation, Zombies und Barbie-Puppen-große Göttinnen mit Verdauungsproblemen.
"Doktor Garin": Ein katastrophal hohler Roman?
All das macht "Doktor Garin" zu einem atemlosen Lesevergnügen. Aber das Erstaunlichste an diesem Buch ist, dass es nicht nur atemlos ist, sondern auch vollkommen leb- und emotionslos. Ungeachtet all der Gewalt und apokalyptischen Zerstörung, durch die Sorokins Helden seltsam unbeeindruckt von Abenteuer zu Abenteuer ziehen.
Und darum stellen sich Fragen: Ist genau das der vielleicht größte Trick des literarischen Magiers Vladimir Sorokin, diese Teilnahmslosigkeit in der Apokalypse? Ist das die Zukunft, die auf uns alle zukommt? Oder ist "Doktor Garin" vielleicht doch ein katastrophal hohler Roman?
Die Antworten auf diese Fragen liefert Sorokin möglicherweise selbst: Der dritte und letzte Teil der Garin-Trilogie ist gerade in Moskau erschienen.
Doktor Garin
- Seitenzahl:
- 592 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00286-7
- Preis:
- 26 €