"Vierzehn Tage": Wenn die Corona-Pandemie zur Inspiration wird
36 der bekanntesten US-amerikanischen Autoren und Autorinnen haben zusammen das Buch "Vierzehn Tage" über den Corona-Lockdown geschrieben. Herausgegeben wurde es von Margaret Atwood und Douglas Preston.
14 Tage im April 2020. Es ist der erste Corona-Lockdown in New York. Die Stadt, die niemals schläft, ist in Schock-Starre, die Straßen sind leergefegt. Nur Krankenwagen rasen durch die Innenstadt. Menschen ersticken, Leichen liegen in Kühlcontainern. Und auf dem Dach eines heruntergekommenen Wohnhauses sitzen sie, die Mieter. Jeden Abend das gleiche Ritual: Sie schlagen auf Töpfe, applaudieren den Rettungskräften.
Und wenn die Glocken der nahen St. Patrick's Old Cathedral acht Uhr schlagen, gehen sie alle, natürlich mit Corona-Abstand, zurück in ihre Apartments. Yessie, die neue Hausmeisterin, hat dieses Ritual losgetreten. Eines Abends beschloss sie, aufs Dach zu klettern, auf einer mäusezerfressenen Chaiselongue mit Alkohol in der Thermosflasche den Sonnenuntergang zu betrachten.
Ich war sprachlos, das Dach war das reinste Paradies, trotz der Spinnen, der Taubenscheiße und der losen Fetzen Teerpappe. Es war riesig, und man hatte eine traumhafte Aussicht. Leseprobe
Kraftvolle New Yorker Dach-Poesie
Flugzeuge heben nicht mehr ab, die Luft ist klar, die Reichen sind in ihre Landhäuser in den Hamptons getürmt. Es ist ein kollektiver Gedächtnisstrom, der beim Lesen in Gang kommt. Nach und nach trauen sich die anderen Mieter herauf. Yessie gibt ihnen heimlich Spitznamen: Vinegar, Eurovision, die Herrin der Ringe. Skurrile, einsame Originale, Philosophen und Rinnsteinpoeten, eine Comiczeichnerin. Sie beginnen, sich Geschichten zu erzählen, die Skyline im Blick.
Spontan rücken sie damit heraus, gelogen oder nicht: Sie erzählen sich von chinesischen Flüchen, verschwundenen Frauen im Fenster. Fragen sich, ob der Stand-up-Comedian, der plötzlich auf dem Dach steht, ein Gespenst ist. Und sitzt da, im Halbschatten, nicht eine menschengewordene Spinne? Merkwürdigkeiten, Unheimliches: Diese New Yorker Dach-Poesie, geschrieben von 36 der wichtigsten Autorinnen und Autoren Nordamerikas, hat eine enorme poetische Kraft. Vor dem Panorama von Big Apple blättert sich der Roman auf mit Fingerübungen, Notizen, kleinen Märchen und Anekdoten vom Sterben, leicht, witzig, manches klingt nach Edgar Allan Poe.
Die Stadt schien mit der Nacht verschmolzen zu sein, als Ramboz seine Geschichte beendet hatte. Die Sirenen schwiegen. Seine Stimme wurde rau. "Wissen Sie, was noch schrecklicher ist als der Tod?" Er schwieg kurz. "Das Vergessenwerden." Leseprobe
Die Pandemie wird zur Inspiration
Die ein oder andere Geschichte verheddert sich, ist ohne Fluss, manche, wie die vom Schwimmer durch den Mississippi, der fast seinen Arm nach dem Biss eines urzeitlichen Fisches verliert, sind doppelbödig und plastisch. Es ist, als hingen diese 36 Episoden am selben schwankenden Faden. Wer was geschrieben hat, ist gar nicht wichtig, man erfährt es erst im Anhang. Und die Pointe des Ganzen geht ins Mark.
Corona ist hier keine nostalgische Erinnerung, sondern Anlass, um von der Vielfalt menschlichen Daseins zu erzählen. Damit reicht der Roman weit über den Tag hinaus: Die Pandemie wird transzendiert, wird zur Inspiration.
Vierzehn Tage
- Seitenzahl:
- 480 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
- Verlag:
- dtv
- Bestellnummer:
- 978-3-423-29002-9
- Preis:
- 25 €