"Verlassene Orte": Die langsame Rückkehr von Flora, Fauna und Mensch
Die schottische Autorin Cal Flyn hat 13 verlassene Orte besucht und darüber ein nachdenkliches Buch geschrieben: "Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt" heißt der literarische Essay.
Um zum Allerheiligsten vorzudringen, muss ich im äußeren Gang über die Kadaver von Möwen und Kaninchen steigen, die sich verirrt oder zum Sterben hierher verkrochen hatten. Meine Schritte sind vorsichtig und ich versuche, möglichst nicht hinzusehen.
Das schreibt Cal Flyn in ihrem Essay "Verlassene Orte" über die Tunnel in der schottischen Insel Inchkeith, unweit von Edinburgh. Früher war sie eine Quarantäneinsel für Syphiliskranke, heute ist sie menschenleer. Aber zahlreiche Vögel haben sie für sich erobert. Fauna und Flora stoßen in die Lücke des Menschen. "Ich hatte geplant, die schlimmsten Orte der Welt zu besuchen", so Cal Flyn, "etwa einen Ort mit nuklearem Super-GAU oder eine Stadt, die von der Lava eines Vulkans erfasst wurde. Aber als ich diese vermeintlich düsteren Orte dann besichtigt habe, sind sie mir gerade nicht hoffnungslos vorgekommen. Denn sie waren schon dabei, sich zu erholen. Sie wurden schon neu genutzt. Sie waren schon überwachsen von Natur."
Cal Flyn glaubt an die "Möglichkeit der Veränderung"
In der "Zone Rouge" von Verdun, wo im Boden noch immer Millionen Tonnen nicht explodierter Munition aus dem Ersten Weltkrieg schlummern, fand Flyn Pflanzen, die giftige Metalle aus dem Boden ziehen: "Vermutlich handelt es sich um eine Form der Selbstverteidigung", sagt sie. "Sie machen sich ungenießbar, um Pflanzenfresser abzuschrecken. Die Wirkung kann außergewöhnlich sein. Ein Beispiel: In den nebligen Regenwäldern Neukaledoniens wächst der gespenstisch silbrige Nickelbaum, Pycnandra acuminata. Schneidet man ihn mit einem Messer an, tritt ein spektakulär grünspanfarbener Milchsaft aus, der bis zu 26 Prozent Nickel enthält."
Flyn tappt in ihrem geistreichen wie sensiblen Buch nicht in die Falle, die menschgemachten Umweltkatastrophen romantisch zu verklären. Nach dem Motto: Wir können uns zurücklehnen, die Natur heilt sich schon selbst. Aber aus der überraschenden Anwesenheit von Flora und Fauna zieht Flyn den "Glauben an die Möglichkeit der Veränderung": "Das ist kein blinder Glaube, sondern ein maßvoller, nervöser Glaube, dass alles gut werden könnte. Mich motiviert dieser Glaube, dabei mitzuhelfen, dass es tatsächlich so kommt."
"Verlassene Orte": Ein Buch, das demütig macht
Dieser zugleich informative und poetische Essay bezeugt auch die Rückkehr der Menschen. So beschreibt Cal Flyn, wie sie in Schottland auf einem Abraumberg aus der Ölförderung von einem Motorcrossfahrer überrascht wurde und wie Menschen wieder in ihre Häuser im weiterhin verseuchten Tschernobyl gezogen sind.
"An den verlassenen Orten habe ich mich erst über die überraschende Gegenwart von Menschen geärgert", sagt Flyn. "Sie passten so gar nicht zu dem, was ich ausschließlich über Pflanzen und Tiere erzählen wollte. Ich habe recht lange gebraucht, um zu verstehen, dass die Menschen Teil meiner Geschichte sind. Denn Verlassenheit bedeutet nämlich nicht, dass da gar kein Mensch ist, sondern nur, dass die Orte nicht mehr wie ursprünglich genutzt werden. Die interessanten Geschichten dieser Menschen zu ignorieren, wäre unmenschlich gewesen."
"Verlassene Orte" ist ein Buch, das demütig macht, weil es zugleich das zerstörerische Handeln des Menschen vor Augen führt und die Rückkehr des Lebens feiert. Ein großartiger Essay.
Verlassene Orte - Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
- Seitenzahl:
- 344 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Milena Adam
- Verlag:
- Matthes & Seitz Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-7518-4004-0
- Preis:
- 34 €