"Vatermal": Ein Buch voller Wut, Melancholie und Poesie

Stand: 15.10.2023 06:00 Uhr

Der Autor und Theatermacher Necati Öziri ist mit seinem Debütroman "Vatermal" für den Deutschen Buchpreis nominiert. In dem Roman erzählt ein schwerkranker junger Mann seinem abwesenden Vater von sich und seinem Leben.  

Cover "Vatermal" © Ullstein
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von Yasemin Ergin

Wie sagt man “Papa”, ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Diese Frage stellt sich Arda, die Hauptfigur in Necati Öziris Debütroman in einem Brief an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat. Arda liegt mit Organversagen im Krankenhaus und will dem Vater, den er schließlich beim Vornamen, Metin, nennt endlich von sich erzählen: "

"Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging" Zitat aus "Vatermal"

Was folgt ist eine rasant geschriebene, berührende und zwischendurch auch lustige Erzählung über Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Der Roman wechselt immer wieder die Perspektive und die Zeitebene. Er erzählt mal aus der Sicht der verlassenen Mutter Ümran, die an ihrem Schicksal zerbricht, mal aus der Sicht der älteren Schwester Aylin, die zunächst versucht, die Restfamilie zusammenzuhalten. Schließlich flüchtet auch sie, kehrt aber immer wieder zu Arda zurück, der nach dem Verschwinden des Vaters zunächst verstummt und später um seinen Platz im Leben kämpft.

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Öziri: "Migration bedeutet fast immer sozialen Abstieg"

Wie schon in seinem Theaterstück "Get Deutsch or Die Tryin", das Necati Öziri 2016 am Maxim Gorki Theater in Berlin entwickelte, und das als Grundlage für seinen Debütroman dient, zeichnet der Autor in "Vatermal" ein mehrere Generationen umspannendes Familienporträt, das die Geschichte der Einwanderung aus der Türkei mit persönlichen Schicksalen verwebt und von der Folgen der Einwanderung auf nachfolgende Generationen erzählt. 

 "In der Geschichte von Arda kommen sozusagen zwei Formen der Migration zusammen", erklärt Öziri. "Das eine ist der Vater, der als politisch Verfolgter nach Deutschland kommt, und das andere ist die Mutter, die nach Deutschland kommt, weil es ein Erdbeben gab, dass das Haus zerstört hat: Wenn man so möchte, aus wirtschaftlichen Gründen im Rahmen der sogenannten Gastarbeit. Das sind die beiden unterschiedlichen Lebenswege. Aber unterm Strich bedeutet Migration fast immer sozialen Abstieg - das ist in beiden Fällen die Situation, sowohl bei Ümran als auch bei dem Vater.“ 

Der fehlende Vater bildet den Mittelpunkt des Romans

Metin, der Vater, wird in Deutschland nicht glücklich und verschwindet von einem Tag auf den anderen aus dem Leben seiner Familie, um in die Türkei zurückzugehen. Obwohl dort ein Haftbefehl auf ihn wartet. Die Leerstelle, die er im Leben seiner Frau und seiner beiden Kinder hinterlässt, bildet den Angelpunkt des Romans. Ardas Mutter flüchtet sich in Affären und in den Suff, seine ältere Schwester Aylin hält es irgendwann zu Hause nicht mehr aus und landet bei einer deutschen Pflegefamilie.

Arda wächst haltlos auf, hängt am Bahnhof mit anderen Migrantenkids ab, dealt mit Drogen - und träumt von einem Literaturstudium. Denn er und seine Freunde, davon ist Arda überzeugt, haben mehr zu erzählen als andere Jugendliche: "Wenn die Welt auch ständig davon schwafelte, dass wir keine Perspektive hatten, wussten wir: Das Gegenteil stimmte. Wir hatten zu viel Perspektive, hatten Dinge gesehen, die andere Kinder ihr Leben lang nicht sehen, während sie die Kürbissuppe ihrer Eltern löffeln."

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Necati Öziri © LST Kärnten/ORF Foto: Robert Schittko

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Öziri dekonstruiert rassistische Klischees

Ein Höhepunkt des Romans ist eine Szene, in der Arda kurz vor seinem 18. Geburtstag, nach Jahren ohne Pass, endlich seine deutsche Einbürgerungsurkunde abholen darf. Als der in Deutschland geborene Abiturient für die Einbürgerung seine Deutschkenntnisse beweisen soll, bricht es aus ihm heraus:

"'Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.'" Zitat aus "Vatermal"

Der Sachbearbeiter weist ihn trocken auf zwei Schreibfehler hin, dann bekommt Arda endlich die Urkunde "mit dem fucking Adler". Der flapsige, fast beiläufige Ton, mit dem Öziri hier rassistische Klischees dekonstruiert und zurück in die Umlaufbahn schickt, zieht sich durch den ganzen Roman. Es sei ihm wichtig gewesen, beim Schreiben keine Agenda zu verfolgen, sondern der Geschichte ihren Lauf zu lassen. "Ich setze mich nicht hin und denke, ich schreibe jetzt einen antirassistischen Roman und ich möchte den strukturellen Rassismus in Deutschland thematisieren und deshalb müssen die zum Ausländeramt, so läuft es nicht", erzählt der Autor. "Natürlich werden Arda und seine Freunde groß in einem Land, das sie als Außenseiter irgendwie betrachtet. Die hängen permanent am Bahnhof, also an Transitorten ab, die befinden sich im ständigen Transit. Denen wird ständig Zeit gestohlen, weil sie an Grenzkontrollen warten müssen, weil sie von der Polizei permanent kontrolliert werden, weil sie auf dem Ausländeramt auf den Fluren rumhocken müssen. Im Prinzip habe ich also einen Roman geschrieben, über Menschen, denen permanent Zeit gestohlen wurde." 

Der Erzählton verändert sich je nach Perspektive

Menschen, denen Zeit gestohlen wird - dieses Motiv schlägt sich auch in der Form des Romans nieder. Der Text fließt und pulsiert, ist mal tief berührend und dann wieder ziemlich lustig. Eine der großen Stärken des Romans ist, dass sich seine Sprache je nach Situation wandelt. Wenn Arda mit seinen Kumpels abhängt, klingt sie lässig, wenn er von der Mutter erzählt, wird der Ton ernsthaft und die Passagen über die Schwester haben ihren ganz eigenen, rotzigen Sound. Etwa, wenn sie ihre deutsche Pflegefamilie als "Zwieback-Familie" bezeichnet, die sie anschaue "als hätte sie einen Straßenköter bei sich aufgenommen".  

Ein Werk voller Wut, Melancholie und Poesie. Dafür könnte Necati Öziri am 16. Oktober den Deutschen Buchpreis bekommen. Egal wie es für ihn ausgeht: Mit "Vatermal" ist ihm eine mitreißende Geschichte gelungen, die einen nicht mehr loslässt und deren Ton noch lange nachhallt. 

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Vatermal

von Necati Öziri
Seitenzahl:
304 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Ullstein
Veröffentlichungsdatum:
27. Juli 2023
Bestellnummer:
978-3-546-10061-8
Preis:
25,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 08.10.2023 | 15:40 Uhr

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