"Sobald wir angekommen sind": Raffiniertes Spiel mit Zukunftsängsten
Der Drehbuchautor und Regisseur Micha Lewinsky hat seinen ersten Roman veröffentlicht. Wer den Herausforderungen des eigenen Lebens für ein paar Lektürestunden mit Genuss entkommen möchte, ist hier bestens aufgehoben.
Die Hauptfigur heißt Ben Oppenheim. Vor - leider schon - etlichen Jahren hat er einen erfolgreichen ersten Roman veröffentlicht und seitdem nichts mehr. Auch seine Ehe muss vorerst offenbar als gescheitert eingestuft werden:
Als Marina die Beziehung dann an einem Dienstagabend im März tatsächlich beendete, wartete Ben darauf, in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen. Zwei Tage rauchte und weinte er ohne Unterbruch. Danach wurde es besser. Er stellte Erleichterung fest. Er war noch am Leben. Die Angst vor dem Ende seiner Ehe hatte ihn viele Jahre belastet. Nun konnte Marina ihn nicht mehr verlassen. Sie stritten zwar weiter. Aber da nicht er den Schlussstrich gezogen hatte, konnte Ben sich für eine Weile als Opfer fühlen und ohne Schuld zufrieden leiden. Leseprobe
Die Angst vor einem Atomkrieg in Europa
Gekonnt nimmt Micha Lewinsky eine enorme Fähigkeit zum Selbstmitleid auf die Schippe. Ben tröstet sich bald mit seiner neuen Freundin Julia. Es kracht und sprüht vor lauter Erotik in dieser frischen Beziehung mit einer schönen und berühmten Installationskünstlerin, die sich ihm mit Wonne und Leidenschaft zuwendet. Bens Noch-Ehefrau Marina, die Mutter seiner beiden Kinder, beobachtet unterdessen die Gefahrenlage in Europa mit zunehmender Nervosität. Sie ist überzeugt davon, dass ein Atomkrieg kurz bevorsteht und will ihre Familie in Sicherheit bringen. Sie bucht vier Flugtickets nach Brasilien. Ben soll auf jeden Fall dabei sein und mit Südamerika ist er einverstanden, denn er plant schon seit einiger Zeit, ein Drehbuch über Stefan Zweig zu schreiben und möchte vor Ort dafür recherchieren.
Stefan Zweig, Bens langjähriger Lieblingsautor, hatte sich in Petrópolis niedergelassen, als er von den Nazis verfolgt wurde. Und was für Zweig richtig gewesen war, konnte für die Oppenheims nicht falsch sein. Leseprobe
Ein Egomane wird durch den Kakao gezogen
Die Figur des erfolgsbefreiten Ben Oppenheim ist Micha Lewinsky großartig gelungen. Wie er die ungebrochene Ich-Perspektive eines kompletten Egomanen durch den Kakao zieht, den er seine Hauptfigur in doppelten Pointen auch noch austrinken lässt, ist sehr unterhaltsam. Ben Oppenheim sieht sich selbst als seelischen Erben einer langen Fluchtgeschichte seines Volkes.
Wenn auf der Flucht aus Ägypten schon die Zeit gefehlt hatte, um Brotteig aufgehen zu lassen, dann hatten die Männer bestimmt auch keine freie Minute gehabt, um sich zu rasieren. Und da die Flucht der Juden nie wirklich aufgehört hatte, wuchsen die Bärte bis heute weiter. So musste es sein, dachte Ben. Er nahm sich fest vor, den Aufsatz des Rasierapparats zu suchen. Selbst wenn es dafür nötig war, die Tasche auszuräumen. Ben war bereit, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen. Er wollte sich rasieren, seine Steuererklärung erledigen und endlich mal die Rückenübungen machen, die er immer wieder vergaß. Leseprobe
Die Flucht nach Südamerika wird erwartungsgemäß schief gehen, frei nach dem Motto: Und so häuft in dieser Irrung sich Verwirrung auf Verwirrung! Wer gerade den Herausforderungen des eigenen Lebens für ein paar Lektürestunden mit Genuss und Gewinn entkommen möchte, ist bei Micha Lewinsky bestens aufgehoben.
Sobald wir angekommen sind
- Seitenzahl:
- 288 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Diogenes
- Bestellnummer:
- 978-3-257-61531-9
- Preis:
- 21,99 €