"Schwindel": Queere Vierecksbeziehung von Hengameh Yaghoobifarah
Hengameh Yaghoobifarah nimmt in "Schwindel" queeres Begehren zwischen Sex und Selbstbefreiung in den Blick. Das Buch steckt voller Schmerz und Scham - und doch auch voll Witz und Selbstironie.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Ava: ein Thirtysomething in der Großstadt mit einem lockeren Lebensstil, wenig Lust auf Verantwortung, dafür umso mehr auf Drogen und queeren Sex. Ava stürzt sich von einem Abenteuer ins nächste Techtelmechtel, um das wiederum für die übernächste Affäre zu beenden - mal mehr, meist weniger elegant.
Mit Delia und Silvia hat sie genau genommen gar nicht offiziell Schluss gemacht, sie klammheimlich auf die Reservebank gesetzt beziehungsweise das Abstellgleis geschoben. Als die zwei unabhängig voneinander, aber gleichzeitig bei ihr auftauchen, während sie sich mit ihrer aktuellen Liaison Robin vergnügt, gerät Ava in Panik und flieht aufs Dach. Die anderen drei verfolgen sie und lassen die Tür zum Treppenhaus zufallen.
"Ava, du musst doch einen Schlüssel haben?", fragt Robin ungläubig. Ava tastet ihre Hosentaschen von außen ab und kommt zu dem bereits befürchteten Ergebnis. "Denkst du, ich hatte Zeit, meinen Schlüssel einzustecken, als ich hier hochgeflüchtet bin?" "Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?", knurrt Delia." Leseprobe
Extraordinäre Liebschaften
Robin ist in einer offenen Partnerschaft mit einem Mann und will die Sache mit Ava unverbindlich halten. Silvia, eine lesbische Frau mittleren Alters, wünscht sich, ihr zweiter Frühling mit Ava möge weitergehen. Delia ist trans, hatte mit Ava eine Art sexuelle Erweckung und kann jetzt nicht mehr genug bekommen.
Es beginnt ein Machtgerangel - in dem es aber um mehr geht als Ava. Jede der Konkurrent*innen verkörpert einen anderen Typus der queeren Gemeinde mit eigenen Vorurteilen. Die Eine gilt den Anderen als nicht queer genug, die Nächste als transfeindlich und die Dritte als komplett gestört.
Die Wortgefechte werden von schlaglichtartigen Rückblicken unterbrochen, die Hengameh Yaghoobifarah ganz unterschiedlich komponiert: "Mir war es wichtig, dass die vier Perspektiven ihren eigenen Sound und ihren eigenen Stil haben und bei Delia auch eine eigene Form. Weil ich wollte, dass die Figuren nicht nur auf der Textebene inhaltlich vorkommen, sondern dass der Text diese Figuren verkörpert, auf eine Art", sagt Yaghoobifarah.
Gegen Seichtigkeit von Belletristik
Hier wagt Hengameh Yaghoobifarah formalistische Experimente – ganz in der Tradition queerer Literatur. Queeres Schreiben bedeute mehr als nur queere Figuren, es müsse sich auch widerspiegeln in der Form, wie erzählt wird. "Es muss irgendwas Irritierendes, Widerspenstiges haben, was sich so gegen Seichtigkeit von Belletristik irgendwie so wehrt", erklärt Yaghoobifarah.
Die größte Spielfreude zeigt sich bei Delia. Die Stimme ist abstrakter und lyrischer als die anderen: gebrochene Sätze und Worte, auf Seiten verstreut oder mal vers-, mal spiralförmig angeordnet. Delia wird konsequent mit "dey" und "demm" benannt. Ein Neopronomen für Menschen, die sich weder als weiblich - sie/ihr - noch männlich - er/ihn - identifizieren.
"dey hielt die augen zu, jede berührung löste die vorstellung einer physischen transformation aus. sie waren weiche slobs, durch das all fliegende shapeshifter, pink und gelb und manchmal grün, die farben waren grell, sonderfarben, mal wie ein stern oder ein kreis oder ein klecks, sie schossen in die luft, mit höchstgeschwindigkeit, und mit jedem kuss veränderte sich ihre form zum beat der musik." Leseprobe
Mehr als sexuelles Begehren
Mal wird der sexuelle Akt nur angedeutet, dann wieder findet Hengameh Yaghoobifarah eine sehr explizite Sprache dafür - aber nicht um zu schockieren oder zu provozieren. Für Delia etwa sei Sexualität auch ein Ort, an dem die eigene Figur das Geschlecht erst so richtig erfahre und deswegen stecke in diesen Szenen viel mehr als nur eine begehrende Person oder sexuelles Begehren. "Ich finde es interessant, zu schauen, wie viel man in solchen Szenen über die Figuren lernen kann und über deren Persönlichkeiten", erläutert Yaghoobifarah.
Begehren ist ein zentrales Motiv im Buch - nicht nur das sexuelle, auch "das Begehren nach Freiheit, Begehren nach dem Ausbruch aus der Gefangenschaft, in der die Figuren in mehreren Ebenen stecken", so Yaghoobifarah.
"es gilt die sprache zu demolieren. das geschlecht zu demolieren. die mauer der gefängnisse zu demolieren. alles zu zerlegen, was uns zu gefangenen macht. alles muss raus. es gibt viel zu tun." Leseprobe
Auch queere Community wird nicht verschont
Die Fesseln sprachlicher Konventionen und tradierter Ideen von Geschlecht zu sprengen: Hengameh Yaghoobifarah ist seit Jahren dabei. "Schwindel" sei aber nicht als künstlerischer Aktivismus oder aktivistische Kunst zu verstehen. "Wenn ich Romane schreibe, dann schreibe ich sie, weil ich Lust habe, eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Die habe dann eher einen "Nachdenk- bis Entertainment-Faktor", Yaghoobifarah habe keinen didaktischen Anspruch an die eigene Prosa.
"Schwindel" hat nachdenkliche wie unterhaltsame Passagen, steckt voller Schmerz, Scham und Angst, aber mindestens genauso viel Witz - und Selbstironie. Keine queere Community wird verschont. Hengameh Yaghoobifarah, selbst nicht-binär und bekannt für radikale Ansichten und schonungslose Texte, fordert mit dem neuen Roman nicht nur konservative Sprachschützer heraus, sondern piekst auch die "queer peers", das mutmaßliche Hauptpublikum.
Schwindel
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Blumenbar
- Bestellnummer:
- 978-3-351-05123-5
- Preis:
- 23 €