von Claudia Cosmo

Joan stammt aus einer afroamerikanischen Familie aus Memphis. Doch an die Wiege ihrer Kindheit erinnert sie sich nur schemenhaft, weil sie den größten Teil ihrer Kindheit an einem anderen Ort verbracht hat. Doch als das Zusammenleben zwischen ihrer Mutter Miriam und ihrem Vater Jax nicht mehr möglich ist, geht es zurück zu ihrer Tante August nach Memphis. Die Fahrt nach Memphis ist sowohl eine Flucht der Mutter vor ihrem Mann als auch eine Wiederbegegnung mit Joans Tante August und alten Erinnerungen.

Die meisten schwarzen Frauen, die in der Gesellschaft als schön galten, sahen aus wie Mama. Schwarze Barbies. Eher gewelltes als lockiges Haar. Schlank. Als Auntie August also diese Tür öffnete, sah ich, dass ihre Haut so dunkel war, dass sie alle Farben in ihrer Umgebung reflektierte. Da wusste ich, dass die Tante, an die ich mich kaum erinnern konnte, an und für sich ein kleines köstliches Wunder war. Leseprobe

Eine traumatisches Erlebnis, das vergessen schien

Tara M. Stringfellows Debütroman "Memphis" beginnt im Jahr 1995, als Joan mit zehn Jahren in das große Haus zurückkehrt, in dem sich die gesamte Familiengeschichte in jeder Zimmerecke festgesetzt hat. Das Zimmer von Tante Augusts Sohn Derek ist sogar ein Tabu. Zumindest für Joan, die Traumatisches darin erlebt hat. So ist das Wiedersehen mit dem fünf Jahre älteren Derek ein Schock.

Und in diesem Sekundenbruchteil erinnerte ich mich auch daran, was er mir angetan hatte. Die Erinnerung an etwas, das ich in all den Jahren vergessen hatte, kam plötzlich mit unaufhaltsamer Wucht zurück. Es war merkwürdig, dass ich mich vollgepinkelt hatte, ohne es zu bemerken. Leseprobe

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Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman

Auf unterschiedlichen Zeitebenen, von den 1970er-Jahren bis in die frühen 2000er-Jahre, zieht sich Gewalt wie ein roter Faden thematisch durch den Roman. Gewalt von Männern gegen Frauen und von Weißen gegen Schwarze. In Joans Familie engagiert man sich in der Bürgerrechtsbewegung und bäumt sich wie Joans Mutter Miriam irgendwann gegen einen gewalttätigen Ehemann auf.

Auf der anderen Seite versucht Miriams Tochter Joan auf ihre Weise mit ihren Erlebnissen klarzukommen. Sie erinnert sich genau daran, was Derek ihr angetan hatte und erkennt in ihrem Cousin einen Menschen, der in sich gefangen ist, zu Gewalttaten und sogar zu Mord fähig ist. Der Wunsch nach Rache ist groß in Joan. Doch sie schafft es, auf eine andere Art und Weise über das Geschehene hinwegzukommen.

Zeichnen war meine Zuflucht. Ich konnte in meinen Block fliehen. Wenn ich mich auf die Skizze, an der ich gerade arbeitete, konzentrierte, verblasste Derek im Hintergrund meines Lebens. Leseprobe

Die Wunden der eigenen Familie

Der Kunst einen transformatorischen Charakter zuzuschreiben, der der Figur Joan eine Art innere Freiheit verleiht, ist die große Aussage des Romans. Oder um es vielleicht mit den Worten der bekannten britischen Psychotherapeutin Julia Samuel zu sagen: Es gibt immer ein Familienmitglied, dem die Aufgabe zukommt, die Wunden aufzudecken. In Tara M. Stringfellows Roman ist es Joan, die dies für ihre Familie tut und mit ihrer Kunst Zusammenhänge aufdeckt. So wird das von Joan verabscheute Zimmer von Derek, der für viele Jahre ins Gefängnis muss, zu einem Atelier voller Zeichnungen, die die Familiengeschichte erzählen.

Tara M. Stringfellows Debütroman "Memphis" liegt eine spannende Familiengeschichte und eine interessante künstlerische These zugrunde. Ein Fehler, den die Autorin begeht, ist ihr Wille zur Kontextualisierung. Sie möchte "Memphis" auf Biegen und Brechen als Zeugnis afroamerikanischer Bürgerrechtsbewegung und Kulturgeschichte einordnen - zwischen Dr. Martin Luther King und dem Roman "Die Farbe Lila" von Alice Walker. Dabei fließt die Geschichte um Hauptfigur Joan doch von ganz alleine.

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