Roman "Der Chor": Kleine Missverständnisse mit großen Folgen
Anna Katharina Hahn ist eine Meisterin im Beobachten von Familienverflechtungen und im kundigen Verweben von literarischen Vorbildern. Das beweist sie wieder in ihrem neuen Roman "Der Chor".
Die quälend lange Zeit, in der sich der Chor wegen der Pandemie nicht treffen durfte, ist gerade vorbei, und alle Frauen, die sich hier zum Singen treffen, sind glücklich darüber, dass es wieder losgehen darf. Aber so einfach ist das nicht mit Alice, Marie, Lena und den anderen. Es gibt Spannungen, Animositäten, Scham und Schweigen in wichtigen Angelegenheiten. Die Chorleiterin will ein Lied aus Estland einstudieren:
Obwohl sie das estnische Lied liebt, findet Alice nicht mehr in die Musik. Sie macht zwar alles richtig, kein falscher Ton stört, doch die Empfindung, beim Singen fast abzuheben, kommt heute nicht auf. Sie fühlt sich eher, als ob sie mit aller Kraft gegen eine verschlossene Tür anrennt. Die Stimmen der anderen klingen wie ein dutzendfach verstärkter Tinnitus, und sie ist erleichtert, als die Probe schließlich vorbei und Lena nicht erneut umgekippt ist. An der Garderobe hilft Alice Lena in den Mantel. Marie ist schon wieder da, tanzt hektisch um sie herum: "Ich bring dich heim", wiederholt sie mehrfach. Alice reicht Lena die Handtasche, dabei sieht sie an Marie vorbei. "Ich habe das Auto vor der Tür." Leseprobe
Streitereien und Sorgen
Alice ist sehr erfolgreich in ihrem Beruf, alles scheint ihr zu gelingen, während Marie es offenbar schwerer hat im Leben. Es gab einen Zwist zwischen den beiden, der schon lange schwelt. Als Leserin ahnt man, wie es im Leben gelegentlich vorkommt, schon früh, dass Maries Abwehrhaltung gegen Alice etwas mit ihrer Affäre mit deren Ehemann zu tun haben könnte. Alice übersieht konsequent alle Vorzeichen. Und dann ist da die Sorge um Lena, die schließlich tot in ihrer Wohnung gefunden wird. Die Trauerfeier wäre ein guter Anlass, alle miteinander zu versöhnen:
"Ich bitte euch um ein anderes Lied. Das ist der Wunsch einer Chorschwester, die heute nicht bei uns sein kann." Die Frauen fangen an zu murmeln. Alice ist erstarrt. Verdammte Marie, denkt sie, da erklingt so deutlich und vertraut wie eh und je die Melodie, und alle heben erstaunt die Köpfe, sind aber sofort dabei und schmettern "Marmor, Stein und Eisen bricht". Kaum ist der letzte Ton verklungen, legen sie ihre Sträuße auf das Grab, rund um das schon ziemlich mitgenommene Rosenherz, bis es ganz von Frühlingsblumen eingerahmt wird. Leseprobe
Anna Katharina Hahn hält einen Spiegel in die Luft
Literarisch sehr gekonnt, ohne überflüssige Girlanden oder Schnickschnack im Text fängt Anna Katharina Hahn Aspekte unserer modernen Lebensumstände ein: Etwa, mit wie vielen kleinen Boshaftigkeiten wir im Wohlstand lebenden Menschen einander das Leben schwer machen und gegenseitig versauern. Es sind nicht nur die großen Themen wie Liebesverrat oder Tod, die zu bewältigen sind, sondern die kleinen Missverständnisse mit großen Folgen, die falsch verstandenen Botschaften. In einem kunstvoll verwobenen Erzählteppich hält Anna Katharina Hahn da einen Spiegel in die Luft. Es sehe hinein, wer mag.
Der Chor
- Seitenzahl:
- 283 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43160-3
- Preis:
- 25 €