Buch-Cover: Rachel Yoder - Nightbitch © Klett Cotta Verlag

Rachel Yoders "Nightbitch": Abgedrehter Hausfrauenschauerroman

Stand: 27.09.2023 06:00 Uhr

In Rachel Yoders Debütroman "Nightbitch" geht es um die Frage, wie schwer es ist, beides zu sein, Künstlerin und Mutter. Die Heldin erschafft in ihrem Dilemma eine wilde, machtvolle Kreatur.

von Lisa Kreißler

Die Ausgangslage könnte banaler nicht sein: Eine Mutter sitzt mit einem Kleinkind zuhause irgendwo in der amerikanischen Provinz, während ihr Mann, der Ingenieur, immer auf Geschäftsreise ist. Sie, eigentlich Künstlerin, hat sich freiwillig in diese Lage begeben. Vor die Wahl gestellt, das Kind einer herzlosen Tagesmutter zu überlassen und weiter zu arbeiten oder eben das volle Hausmutti-Programm als Arbeit anzusehen, entschied sie sich für Letzteres. Die Ödnis der langen Tage mit Kind sind zermürbend. Die anderen Mamis von den "Bücherbabys" wollen sich mit ihr anfreunden, aber die Mutter ist cooler als sie, sie grenzt sich ab von deren Faible für Kräuter, Leggings und ätherische Öle. Trotzdem entgehen ihr existenzielle Gemeinsamkeiten nicht.

Wie sie herausgefunden hatte, konnte man eine Mutter an diesem Blick erkennen, aus dem nicht nur Langeweile und Erschöpfung sprach, sondern noch etwas anderes. Es war, als suchten die Mütter in der Ferne etwas, das sie verloren hatten, woran sie sich aber nicht mehr erinnern konnten. Was? Leseprobe

Wenn die Mutter zum Tier wird

Ist es möglicherweise ihr wahres Ich, das in der Kluft der vorgegeben Rollen auf sie wartet? Was würde dieses Ich tun? Rachel Yoder dreht den Regler ihres abgedrehten Hausfrauenschauerromans "Nightbitch" langsam hoch. Die Mutter ist so wütend, auf alle, ihren extrasüßen, verständnisvollen Ehemann, ihre Künstlerkolleginnen und natürlich das System, das die Mutter, die nicht arbeitet, in einem angenehmen Urlaub abgestellt sieht. Ihr Körper beginnt sich zu verändern: Ein Fell wächst ihr im Nacken und plötzlich hat sie einen Mordshunger auf Fleisch. Instinktiv weiß sie, dass sie dabei ist, sich in ein Tier zu verwandeln. Aber wie kann das sein? Das Buch der Ethnologin Wanda White "Verzeichnis der magischen Frauen" wird zu ihrer besten Freundin. Scheinbar enthält es alle Antworten auf ihre Fragen.

Das Seltsame ist vielleicht, dass die meisten magischen Frauen sich ihrer Kräfte gar nicht bewusst sind und sich ohne einen Blick zurück ins Reich des Magischen begeben. Für sie fühlt die Reise sich so natürlich an wie zu atmen oder einzuschlafen. Der Wechsel von der bekannten Welt in die unbekannte geschieht oft unbewusst, doch in jedem Fall markiert er den Beginn dessen, was die Kwolo aga nennen, das zweite Leben. Leseprobe

Eines Abends verwandelt sich die Mutter in einen Hund. Sie verbringt eine ekstatische Nacht erfüllt von Hast und Jagd. Am nächsten Morgen erwacht sie nackt im Gras. Sie ist nicht mehr die Mutter, sie ist jetzt Nightbitch, ein mächtiges instinktgeleitetes Wesen, irgendwo zwischen Mensch, Göttin und Tier. Ihr Mann, der am Rande alles mitbekommt, ist nicht befremdet, sondern liebt sie mehr denn je. Ihr Sohn profitiert vom Spieltrieb seiner wilden Mutter. "Das Hundespiel" versüßt ihnen die Tage. Sogar Nightbitchs Mord an der Hauskatze ändert nichts daran.

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"Nightbitch": Reflexion über Kunst und Mutterschaft

Die aufregende Frage, wie Geburt und Gewalt miteinander in Kontakt stehen, ist der Kern von Rachel Yoders erzählerischer Reflexion über Kunst und Mutterschaft. Ihr grandios lässiger Text kokettiert dabei nie mit dem Traumhaften. Ohne metaphysisches Tamtam erzählt "Nightbitch" von der Möglichkeit einer Frau, sich selbst neu zu erfinden, mutig den kühnen widerspruchsvollen Sehnsüchten nach Liebe und Aggression nachzugehen. Am Ende verwandelt Nightbitch ihre neue Power in eine künstlerische Performance, die das ganze Land in Atem hält.

Streckenweise schlägt die feministische Parole ein bisschen zu plump durch, aber "Nightbitch" hat eben auch einen klaren Auftrag. Sie heult den Mond an, damit alle Mütter und Werwölfe es hören: Verlangt mehr!

Nightbitch

von Rachel Yoder
Seitenzahl:
304 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Verlag:
Klett-Cotta
Bestellnummer:
978-3-608-98687-7
Preis:
24 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 27.09.2023 | 12:40 Uhr

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Romane

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