Cover: Olga Tokarczuk, "E. E.“ © Kampa
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AUDIO: Neue Bücher: "E.E." von Olga Tokarczuk (5 Min)

Olga Tokarczuks Frühwerk "E.E." erscheint erstmals auf Deutsch

Stand: 23.09.2024 06:00 Uhr

Olga Tokarczuks zweiter Roman "E.E." erschien auf Polnisch bereits 1995. Jetzt ist er erstmals ins Deutsche übersetzt. Spannend ist "E.E." allemal, aber bei weitem nicht auf dem Niveau, auf dem die Nobelpreisträgerin heute erzählt.

von Kais Harrabi (MDR)

Bei Familie Eltzner herrscht Aufruhr. Tochter Erna zeigt überraschend Anzeichen einer übersinnlichen Begabung. Beim Abendessen will sie eine Gestalt gesehen haben - anschließend ist sie in Ohnmacht gefallen.

Noch jetzt, im Bett der Mutter, hätte sie ihn beschreiben können, vielleicht nicht jede Einzelheit, aber doch das Wesentliche: helle Augen und eine Fremdartigkeit, die schwer zu fassen war. Als hätte man eine Illustration aus einem Buch ausgeschnitten und sie in ein anderes eingeklebt. Niemand beachtete den Mann, der so sichtbar dastand, und als Greta, eine Schüssel mit Spargel in den Händen, an ihm vorbeiging, wurde es Erna klar - sie sah einen Geist. Leseprobe

Der Roman spielt im Breslau des Jahres 1908, und natürlich ruft die Kunde von Ernas möglicher Begabung allerlei Gestalten auf den Plan. Zuvorderst den selbsternannten Theosophen Walter Frommer, der auch in Tokarczuks letztem Roman "Empusion" eine Nebenrolle spielt. Hinzugerufen werden außerdem der Familienarzt Dr. Löwe, sowie Arthur Schatzmann, ein junger Medizinstudent, der in Ernas Begabung ein Thema für seine Doktorarbeit wittert und hofft, eine rationale Erklärung für die Vorgänge im Hause Eltzner zu finden.

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Ein Hauch von Stephen Kings "Carrie"

"E.E." erschien 1995 auf Polnisch, und man merkt dem Roman an, dass er eher ein Frühwerk von Olga Tokarczuk ist. Der liebevolle Erzähler, den die Autorin in ihrer Nobelpreisvorlesung beschworen hat und der den besonderen Tonfall ihrer letzten Romane wie "Die Jakobsbücher" und "Empusion" geprägt hat, fehlt hier noch. Stattdessen sind die Kapitel recht nüchtern aus der Perspektive der Figuren erzählt. Und es braucht eine Weile, bis man sich in dem zahlreichen Personal zurechtfindet, von dem fast jeder eine eigene Absicht mit der jungen Erna verfolgt oder Hoffnungen auf sie projiziert, allen voran Ernas Mutter.

Wenn Erna dann im Verlauf der Geschichte telekinetische Fähigkeiten zu entwickeln scheint und die erste Monatsblutung bekommt, dann weht ein Hauch von "Carrie" durch Tokarczuks Roman. Im Gegensatz zu Stephen King interessiert sich Tokarczuk aber weniger für Traumata, sondern vor allem für die vielen Erwartungen an Erna: Übersinnlich begabtes Medium, Tochter, mögliche Betrügerin - wie bei einem Medium scheinen durch Erna nicht nur die Geister zu sprechen, sondern auch die Rollenvorstellungen der anderen Figuren im Roman. Und natürlich entzündet sich auch ein Konflikt um die Frage, ob aus Erna wirklich die Geisterwelt spricht - oder doch eher das Unbewusste. Schließlich sind wir im Jahr 1908 und die Theorien eines gewissen Sigmund Freud werden heiß diskutiert:

"Diese ganze Psychoanalyse ist womöglich ein Bastard der Wissenschaft, hier sehen wir den Brennpunkt des ganzen Übels, der ganzen Entartung des Rationalismus. Wie die Dekadenz in der Kunst! Etwas geht seinem Ende entgegen, meine Herrschaften!"
"Eine wenig originelle Ansicht", bemerkte Arthur.
"Und ebendeshalb zutreffend. Diese Gedanken tauchen auch immer öfter bei den Séancen auf. Die herbeigerufenen Geister sagen es ..."
"Mein Eindruck ist, dass wir eher mit uns selbst sprechen als mit Geistern." Leseprobe

"E.E.": Nicht auf gewohntem Tokarczuk-Niveau

Thematisch wirkt es fast, als hätte Tokarczuk einen Topf Spaghetti an die Wand geworfen und geschaut, welche Nudeln hängen bleiben. Subtil kündigt sich die Zeitenwende des Ersten Weltkriegs an, es gibt klar feministische Untertöne, toxische Männer, es geht aber auch um Traumata und wie sie sich in Körper und Psyche einschreiben können - man merkt dem Roman eben an, dass er ein Frühwerk ist. Spannend ist "E.E." allemal, aber bei weitem nicht auf dem Niveau, auf dem Olga Tokarczuk heute erzählt.

E.E.

von Olga Tokarczuk
Seitenzahl:
304 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Verlag:
Kampa
Bestellnummer:
978-3-311-10139-0
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 23.09.2024 | 12:40 Uhr

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