Natasha Browns "Zusammenkunft" gibt zu denken
Sie ist ein Shootingstar der britischen Literaturszene und die vielleicht glamouröseste Mathematikerin schlechthin: Die Rede ist von Natasha Brown. Jetzt ist ihr Buch "Zusammenkunft" erschienen.
Jung, schwarz, sicher auch talentiert. Vor allem aber hart arbeitend: Das ist die namenlose Ich-Erzählerin in Natasha Browns Debüt-Roman.
Sei die Beste. Arbeite härter, arbeite schlauer, arbeite genauer. Übertriff jede Erwartung. Sei aber gleichzeitig unbemerkbar. Löse bei niemandem Unbehagen aus. Sei nicht unbequem (…) Werde zu Luft. Leseprobe
Die Tochter jamaikanischer Einwanderer hat sich aus prekären Verhältnissen in die britische Upperclass hochgearbeitet, einen gut bezahlten Job bei einer Bank, eine schicke Eigentumswohnung, einen Boyfriend "aus gutem Hause". Dessen Eltern haben gerade zu einer großen Familienfeier, zur titelgebenden "Zusammenkunft" geladen.
Erzählung von Entmenschlichung und verstecktem Rassismus
Wer hier eine Erfolgsgeschichte erwartet, liegt falsch. Natasha Brown erzählt von Entmenschlichung und sexueller Belästigung, offenen Anfeindungen und verstecktem Rassismus. Dazu: ein allgegenwärtiger und massiver Druck.
Es gibt keinen Erfolg, nur das vorläufige Abwenden des Versagens. Angst. Vom Vibrieren und Klingeln meines Weckers, bis ich mich wieder schlafen lege. Angst. Sie liegt kalt in meinen Eingeweiden, schlängelt sich meine Speiseröhre hinauf, umschließt meine Kehle. (…) Angst, Angst, Angst, Angst. Alles Mögliche könnte die eine Sache sein, die alles versaut. Ich weiß das. Diese Wahrheit hallt in meiner Brust, eine wummernde Basslinie. Angst, Angst, sie würgt mich. Angst. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das nicht gefühlt habe. Leseprobe
Die Angst zu versagen ist größer als die vor dem Tod
Nicht den Anstrengungen ihrer Vorfahren gerecht zu werden, die so hart gearbeitet, so viel gelitten und aufgegeben haben, um ihr die Chance auf "ein besseres Leben" zu geben. Die Angst davor scheint sogar größer als jene vor dem Tod. Sie ist krank. Die Diagnose Krebs und die Aussicht auf ein qualvolles Ende scheinen sie nicht zu beunruhigen, im Gegenteil.
Das ist die Gelegenheit, das ist meine Chance. Den endlosen Aufstieg zu beenden. Meine Familie bessergestellt zurückzulassen. Und alles andere hinter mir zu lassen. Zu transzendieren. Warum sollte ich nicht? Leseprobe
Dem Partner verrät sie nichts von der Diagnose. Ohnehin glaubt sie, dass er sie vor allem als Prestigeobjekt, Beweis seiner Weltoffenheit und Toleranz an seiner Seite hat. Ob diese Lesart stimmt, erfahren wir nicht.
Die Erzählerin wird zum Objekt degradiert
"Der Sohn", wie sie ihn meist nennt, bleibt stumm. Wir sehen die Welt nur durch die Augen der Ich-Erzählerin - es geht einzig um ihre Perspektive. Sie, die immer wieder die Erfahrung gemacht hat, zum Objekt degradiert, kritisch beäugt, bewertet zu werden, dreht dabei den Spieß um.
Ein Mief geht davon aus. Von so vielen Männern, die reden und schwitzen und rülpsen und husten und existieren - Ärmel an Ärmel zusammengepfercht. Trockene, verwitterte Gesichter; weiche, schlaffe Wangen; fettglänzende Stirnen. Hälse, eingezwängt in noch zugeknöpfte Hemdkragen. Alle Schattierungen von Rosa, Beige und Braun. Finger, die auf Tastaturen einhämmern und fleischige Fäuste, die Telefonhörer umklammern. Leseprobe
Stilistische Brüche und typografische Lücken als Stilmittel
Körper werden ganz genau unter die Lupe genommen, seziert. Natasha Brown dringt ein - ins Innerste, vor allem ihrer Protagonistin. Diese Innenschau erzählt sie szenisch und nicht linear. Springt von einer Situation zur nächsten und wieder zurück. Das Erzähltempo wechselt dabei genauso wie Tonfall und Schreibstil: prosaisch, poetisch, essayistisch.
weiß
zeigt keine Färbung, weil es jedes oder
fast jedes einfallende Licht reflektiert.
schwarz
ohne Licht, komplett dunkel
ohne Hoffnung oder Linderung; düster
sehr dreckig oder beschmutzt.
Blutleer oder blass, wie von Schmerz,
Gefühlen etc.
Gütig oder ohne böse Absichten
Wütend oder nachtragend
Moralisch tadellos
(gesichts)violett,
wie vom Ersticken
Leseprobe
Neben stilistischen Brüchen kennzeichnen den Text auch typografische Lücken, Leerzeilen, Umbrüche, Einzüge. All dies tut dem Lesefluss keinen Abbruch; das schmale Büchlein ist im Handumdrehen durchgelesen. Und hallt dennoch nach, gibt zu denken.
Natasha Browns oft fragmentarischer Text lässt neben den Leerstellen auf Papier vor allem auch Freiräume zum Interpretieren. Nicht alle Fragezeichen werden ausradiert, Gewissheiten bekommen wir nicht. Und - Achtung, Spoiler-Alarm: Auch das Happy End bleibt uns verwehrt. "Zusammenkunft" ist kein gefälliges Buch, und genau darum gefällt es umso mehr.
Zusammenkunft
- Seitenzahl:
- 113 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- aus dem Französischen von Claudia Marquardt
- Verlag:
- Suhrkamp
- Veröffentlichungsdatum:
- 14. Februar 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43046-0
- Preis:
- 20 €