"Muna oder Die Hälfte des Lebens": Terézia Mora setzt tiefen Stachel
Terézia Mora beschreibt in "Muna oder Die Hälfte des Lebens" das Leben einer Frau in emotionaler Abhängigkeit. Der Roman steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zu Recht?
Der Mann, den ich liebe, wird nicht mehr lebendig, und ich habe die Hälfte meines Lebens noch vor mir. Im statistischen Mittel. Leseprobe
Normalerweise wäre es nicht zulässig, die letzten Zeilen eines Romans zu verraten. Aber dies hier ist kein normaler Fall und sicher kein Buch, das man lesen sollte, einfach um das Thema "das Leben einer Frau in emotionaler Abhängigkeit" besser zu verstehen.
Was Terézia Mora hier gelingt, ist große literarische Kunst. Lakonisch-schonungslos zieht diese Erzählerin Bilanz, unsentimental nimmt sie das Leben in den Blick. Überhaupt hält Terézia Mora uns Lesende wohl für so kluge Wesen, dass sie gar nicht erst versucht, mit falschen Trostangeboten zu beruhigen. Es ist eben, wie es ist: Der Mann ist tot.
Nicht leicht zu ertragene Gewalt-Szenen
Muna ist eine Frau, die sich alles selbst erarbeiten muss und das auch tut. Kulturversessen, wissbegierig, zupackend zieht sie zum Studieren los, testet verschiedene Jobs, Männer, Städte. Konzentriert sich - Literaturwissenschaftlerin, die sie bald ist - auf weibliches Schreiben und eher feministische Fragen. Nur hilft ihr das Wissen aus den Büchern persönlich nicht weiter. Immer wieder landet sie in Situationen, in denen sie nicht für ihre Unversehrtheit einzutreten weiß. Und Magnus, die große Liebe, stärkt ausgerechnet diese Seite:
Mieses Stück parfümierte Scheiße!
Ich weiß nicht, ob es seine Stimme war oder etwas in meinem Kopf, das mir die Wahrheit über mich sagte. Dann wurde das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren so laut, dass ich nichts mehr hörte, auch nicht mehr einen Gedanken. Das war die Halsschlagader, die er zugedrückt hielt, während er mich gegen die Wand presste.
Die Ich-Erzählerin lässt uns etliche Szenen bezeugen, in denen ihr Gewalt angetan wird, seelisch wie körperlich. Sie beschreibt präzise, überlässt aber die großen Fragen uns: Warum hofft sie auf Glück mit diesem Mann - oder später, als klar wird, dass Glück nicht zu haben ist, immerhin darauf, dass er bleibt? Warum erkennt sie Liebe in einer Beziehung, die so wenig Freundlichkeit bereithält?
Terézia Mora erzählt zum ersten Mal aus der Ich-Perspektive
Autorinnen und Autoren spielen in ihren Romanen zur Zeit gern mit ihrem eigenen Leben. "Autofiktion", ein Wort, das vor ein paar Jahren nur Literaturwissenschaftler-Nerds kannten, ist mittlerweile in aller Munde. Die aus Ungarn stammende, lange schon in Berlin lebende Schriftstellerin Terézia Mora verfolgt in ihrem neuen Roman zum ersten Mal die Stimme einer Ich-Erzählerin. Dass sie selbst eine Frau ist, sagt Mora, habe ihr da genauso wenig geholfen, wie sie davon profitiert habe, auch mal 17 gewesen zu sein, als sie für eine andere Figur in die Haut einer 17-Jährigen schlüpfen musste. Gar nicht habe ihr das geholfen, sagt sie.
Erzählerin lässt Leser in Munas Kopf blicken
Entziehen kann man sich dieser Ich-Erzählerin nicht - gerade weil Terézia Mora uns in Munas Kopf hineinkriechen lässt. Die Autorin arbeitet mit durchgestrichenen Sätzen, mit Gedanken in Klammern, sodass oft ohne jeden Kommentar klar wird, was Muna denkt oder sagt, was sie herunterschluckt, was ihr rausrutscht. Von der ersten Seite an - da ist Magnus noch gar nicht in Sicht - entsteht so eine unglaubliche Nähe zur Erzählerin und eine große Dynamik im Erzählen.
Der Stachel sitzt und bleibt
Viele Bücher begnügen sich damit, einen Stachel zu setzen, ein bisschen in der Wunde herumzustochern, nur um den Stachel dann wieder zu ziehen und den Leser angemessen beruhigt ins Leben zurückzuschicken. Dieses Buch wagt viel mehr. Der Stachel sitzt und bleibt. Wir sehen nach der Lektüre klarer, aber trösten müssen wir uns allein.
Muna oder Die Hälfte des Lebens
- Seitenzahl:
- 448 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87496-8
- Preis:
- 25 €