Maylis de Kerangals "Kanus": Die Kraft der weiblichen Stimme
Wie viel Wahrheit liegt in unserer Stimme? Wie beweglich sind Stimmen? Der Erzählband "Kanus" von Maylis de Kerangal enthält acht höchst unterschiedliche Erzählungen voller Identifikationsmomente.
Wie kann eine Stimme klingen? Wie ein "helles Kanu auf dunklem Ozean" oder "spitz ohne Schärfe wie ein Gebirgsbach". Die schönsten, wundersamsten Bilder findet die Französin Maylis de Kerangal. In ihre Sprache bin ich schockverliebt.
Wenn sich die Stimme verändert
Sie ist mir vertrauter als mein Land, diese Stimme, sie ist meine Landschaft. Leseprobe
Das denkt die Ich-Erzählerin, wenn ihr Liebster spricht. Sam und sie hatten lange eine Fernbeziehung. Das Knarzen der Telefonleitung war die Hintergrundmusik all ihrer Gespräche. Nun also sind sie leibhaftig vereint, sind gemeinsam ausgewandert nach Golden, eine Vorstadt, gegründet während des Goldrausches in Colorado an den Rocky Mountains. Ein Ort wie eine Western-Kulisse, wo geschwiegen wird über Armut, Waffengewalt und Verbrechen an Indigenen, die hier geschehen sind. Während die Erzählerin fremdelt und immer stiller wird, passt Sam sich an die neue Nachbarschaft an:
Ich erkenne Sams Stimme nicht mehr. Als fügte er sich ins örtliche Orchester ein; seine Stimme eignet sich nach und nach ihren Tonfall an, übernimmt ihren Rhythmus und ihre Lautstärke. Leseprobe
Ihr Partner klingt fremd, findet die Ausgewanderte in Maylis de Kerangals Erzählung "Mustang". Ja, wir können uns in eine Stimme verlieben. Oder das Gegenteil.
Macht die Stimme einen Menschen?
Acht höchst unterschiedliche Erzählungen sind es, in denen sich die Autorin mit der Kraft der weiblichen Stimme auseinandersetzt: Wie viel Wahrheit liegt in unserer Stimme? Wie beweglich sind Stimmen? Und: Macht die Stimme einen Menschen? Während sich Abiturienten nach getaner Denkarbeit kollektiv die Seele aus dem Leib schreien - ein gemeinschaftliches Empowerment im Gewand von Schimpansen sozusagen - betrachtet die Patientin beim Zahnarzt all die stummen Gipsgebisse im Regal: Knochen, die Stimme formen, schließlich ist der Kiefer "die wichtigste Schaukel im Körper", heißt es im Text. Und in der Hoffnung auf eine Radio-Karriere will Zoé sich die feminine Stimme abtrainieren.
Je höher du sprichst, desto mehr giltst du als fragil, nervös, weniger belastbar, und umgekehrt, je tiefer die Stimme ist, desto eher hält man die Sprecherin für solide, zuverlässig, vertrauenswürdig, verstehst du? Und wie um diesen gesellschaftlichen Stimmbruch der Frauen, diese Vokalrevolution zu feiern, bestellten wir noch zwei White Russian. Leseprobe
"Kanus": Ein Band voller Identifikationsmomente
Kein Wunder, dass eine Radio-Rezensentin ohnehin auf Literatur über die Stimme abfährt. Aber in dieser Dichte und Kühnheit hat man selten etwas zu diesem Thema lesen können. Die Texte machen klar, welche Rolle die Stimme für unser Menschsein spielt. Wir identifizieren uns mit ihr, sie verbindet uns mit anderen und sie ist veränderlich - ob dem Alter, den Umständen oder eigener Kraftanstrengung geschuldet. Und was, wenn wir jemanden verlieren? Auch das Metaphysische hat seinen Raum in diesen Erzählungen:
In jeder Geschichte taucht eines der titelgebenden Kanus auf - als Kettenanhänger am Hals der Zahnärztin, als Postkartenmotiv oder als Metaphernspiel. Eine verwegene Entscheidung, denn inhaltlich spielt das Kanu keine Rolle. Es ist wie eine Unterschrift der Autorin, die alle Texte verknüpft. Mehr Gag als Symbol. Herrlich, dieser Kniff!
Ein Band, der laute und leise Töne gleichermaßen funkeln lässt. Nah, stringent und voller Identifikationsmomente - nicht nur für Radio-Leute.
Kanus
- Seitenzahl:
- 168 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Andrea Spingler
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43119-1
- Preis:
- 22 €