Cover: "Kalte Füße" von Francesca Melandri © Verlag Klaus Wagenbach

"Kalte Füße": Literarische Auseinandersetzung mit dem Vater

Stand: 14.10.2024 06:00 Uhr

Francesca Melandri hat zuerst als Drehbuchautorin große Erfolge gefeiert, nun ist ihr neues Buch "Kalte Füße" in die Buchhandlungen gekommen und in der Reihe "Am Morgen vorgelesen" im Radio zu hören.

Gleich zu Beginn erzählt die Ich-Erzählerin, die leicht als Francesca Melandri erkennbar ist:

Es gibt so viele Anekdoten im Geschichtenkanon unserer Familie, in unserem heiligen Buch der Erinnerungen, zu denen ich dich gerne befragen würde. Doch dafür ist es zu spät. Aus dem Buch "Kalte Füße" von Francesca Melandri

Ob wir "Kalte Füße" als Roman, als Erinnerungsbuch oder als politischen Essay lesen, können wir je nach Leseabschnitt immer wieder neu entscheiden. Für die Autorin ist es vor allem eins: "Dieses Buch ist eigentlich ein Brief an meinen Vater. Er ist nicht mehr da. Er ist vor einigen Jahren gestorben. Aber es ist ein Brief, in dem ich ihn frage, Papa, bitte, erkläre mir, was ist Krieg? Weil: ich habe keine Ahnung. Und es ist wie eine Einladung an ihn, mit mir diesen heutigen Krieg zusammen anzuschauen und durch die Augen von einem, der einen Krieg leider erfahren hat."

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Eine Frau (Nina Kunzendorf) sitzt auf einem Podium mit Mikrofon und lächelt. © IMAGO / Future Image

Nina Kunzendorf liest "Kalte Füße" von Francesca Melandri

Francesca Melandri verknüpft das Ende des Friedens in Europa mit einem verdrängten Kapitel italienischer Geschichte. mehr

"Kalte Füße": Brief-Roman über Erinnerung und dem Wunsch nach Verstehen

Der Vater war als italienischer Gebirgsjäger im Russlandfeldzug und hat als einer von wenigen überlebt. Die Orte, an denen er im Einsatz war und von denen er erzählt hat, erkennt Francesca Melandri bald wieder, als der Ukraine-Krieg begann. Und sie versteht: Was der Vater als Russlandkrieg beschrieben hat, war auch schon damals im Zweiten Weltkrieg ein Ukraine-Krieg. Der Vater gehörte zu den Besatzern, zu den Faschisten. Die Tochter möchte wissen, wie viel Schuld der Vater auf sich geladen hat.

Dann gibt es Ereignisse, die erst kürzlich ans Licht gekommen sind, von denen du uns nie erzählt hast. Und von denen ich erst nach deinem Tod erfahren habe. Und hier stehe ich nun mit meinem Wunsch, zu verstehen. Aus dem Buch "Kalte Füße" von Francesca Melandri

Aber dieser Wunsch stößt auch immer wieder an Grenzen, sagt Melandri: "Ich bin nicht daran interessiert, meinen Vater und seine Generation zu verurteilen. Ich bin kein Richter, ich bin Schriftstellerin. Ich bin mehr daran interessiert, die menschlichen Konditionen zu erforschen und zu beobachten, wenn möglich zu verstehen. Das ist nicht immer möglich. Zum Beispiel verstehe ich nicht viele Teile meines Vaters - aber das ist auch ok."

Die Schriftstellerin Francesca Melandri © Francesca Mantovani / Gallimard
AUDIO: Francesca Melandri über Krieg und Frieden in Europa (55 Min)

Verdrängung und die Causa Saviano

So wird der Vater auch zu einem Stellvertreter des großen Schweigens, das Francesca Melandri für die Nachkriegszeit Italiens als typisch ansieht: "Das Gefühl, dass die zwei großen Verdrängungen der Italiener gegenüber unserer Gegenwart so ähnlich war, wie die Verdrängung heutzutage. Dass wir gegenüber diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine so leben, als hätte er nichts wirklich mit uns zu tun. Und für mich sind diese beiden Fluchten aus der Realität eigentlich eine einzige."

Als im Juni prominente italienische Autorinnen und Autoren mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gingen, um gegen das offizielle Programm des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse zu protestieren, unter anderem weil der Mafia-Experte Roberto Saviano nicht eingeladen worden war, da hat auch Francesca Melandri unterschrieben. Nun kommt Saviano doch und so fährt auch Melandri selbstverständlich hin: "Ich bin da als Italienerin, die auch existiert, die nicht für diese Regierung denkt und existiert. Aber ich würde denken: nicht zu gehen wäre eine Art Passivität, etwas, das ganz anders wäre als meine Idee davon, was eine Intellektuelle ist."

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Aufgeschlagenes Buch und Brille © fotolia.com Foto: Stefan Gräf

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Kalte Füße

von Francesca  Melandri, aus dem Italienischen von Esther Hansen
Seitenzahl:
288 Seiten
Verlag:
Wagenbach
Bestellnummer:
ISBN 978-3-8031-3367-0
Preis:
24 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 14.10.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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