Cover von Jenny Erpenbecks "Kairos" © Penguin

"Kairos" von Jenny Erpenbeck: Wie ein nicht enden wollender Herbst

Stand: 31.08.2021 12:40 Uhr

Jenny Erpenbecks neues Buch "Kairos" erzählt auf knapp 400 Seiten die Biografie einer schwierigen Beziehung - vor dem Hintergrund und in enger Verwobenheit mit dem Zusammenbrechen der DDR.

von Alexandra Friedrich

Jenny Erpenbeck wird 1967 in eine Berliner Schriftstellerdynastie geboren. Nach Umwegen über eine Buchbinderlehre, Tätigkeiten als Requisiteurin und Ankleiderin, Theater-Wissenschaften und -Regie tritt auch sie 1999 mit der "Geschichte des alten Kindes" in die Schriftsteller-Fußstapfen ihrer Großeltern und Eltern. Heute zählt Erpenbeck zu den stärksten Erzählstimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Für Romane wie "Heimsuchung", "Aller Tage Abend", "Gehen Ging Gegangen" wurde sie vielfach ausgezeichnet.

...ein Regenschauer wehte die Passagiere an, als der Bus am Marx-Engels-Platz hielt und die Türen auftat. Etliche Menschen drängten herein, um sich ins Trockne zu retten. Und so wurde sie, die zunächst dem Eingang stand, zur Mitte geschoben. Die Türen schlossen sich wieder, der Bus fuhr an, sie suchte nach einem Haltegriff. Und da sah sie ihn. Und er sah sie. Leseprobe

Jenny Erpenbeck erzählt von der Liebe einer Teenagerin und eines Schriftstellers

Katharina und Hans begegnen sich in Ostberlin. Am 11. Juli 1986. Sie: noch ein Teenager, 19 Jahre alt. Er: ein verheirateter Mann, Mitte 50. Für beide scheint es magisch, eine schicksalhafte Fügung.

Und nun rechnen sie noch ihre Geburtsjahre zusammen und stellen fest, dass sein Geburtsjahr und ihres zusammenaddiert 100 ergeben. Dann kann der Zufall doch gar kein Zufall gewesen sein! Leseprobe

Hans ist Schriftsteller, bewegt sich in einem Intellektuellen- und Künstler-Milieu, in dem die Namen vieler realer Figuren auftauchen: Er empfängt Dramatiker Heiner Müller zum Abendessen, verkehrt mit dem früheren Dramaturgen des Deutschen Theaters Alexander Weigel und erzählt von seiner Schriftstellerkollegin Christa Wolf. Hans eröffnet der jungen Katharina, die selbst einen bildungsbürgerlichen Hintergrund hat, neue Welten. Mit ihm ändert sich ihre Lesart von Literatur, ihr Blick auf Kunst, ihr Verständnis von Theater. Mit ihm hört sie Chopin, Bach, Mozart mit anderen Ohren...

Wir dürfen uns nicht unglücklich machen, sagt er, und greift nach ihrem Schoß. Sie lächelt: Soweit sind wir doch schon. Salva me, salva me. Du sollst mit mir schlafen, sagt sie. Leseprobe

Wenn Liebe zu einer toxischen Beziehung führt

Das erste Mal miteinander erleben sie zu Mozarts "Requiem". Schon beim zarten Aufkeimen der Liebe schwingt ihr Ende mit. Der Vergänglichkeit sind sich Katharina und Hans - mal mehr, mal weniger - gewahr. Im Moment des Geschehens, wird bei ihnen immer wieder das Nach-vorn-Schauen zur vorauseilenden Erinnerung...

Wird er in zehn Jahren mit irgendeiner andern zusammensitzen und ein Foto herzeigen von ihr, Katharina, und dazu sagen: Das war einmal meine Geliebte? Wie soll man es aushalten, dass die Gegenwart Moment für Moment hinabrauscht und Vergangenheit wird? Leseprobe

Die Zeit. Sie läuft anders in "Kairos". Nicht nur verwischen Erinnerung, Erleben und Vorausschau. Auch das Tempo ist wechselhaft: Mal verstreicht die Zeit schleppend, schleicht zäh dahin, dann beginnt sie, zu rasen, wir hecheln hinterher. Wie funktioniert Zeit? (Fragen wir uns.) Aber vor allem: Was ist Liebe? Das vollständige Ergründen des Gegenübers? Symbiose, das komplette Eins-Werden? Darin versuchen sich Hans und Katharina. Doch die sich schnell zeigenden kleinen Risse in ihrer Verbundenheit entwickeln sich langsam zu Abgründen, dunklen und tiefen Kratern. "Die große Liebe" wird zu einer "Amour fou", oder - wie man heute sagen würde: "toxischen Beziehung". Zärtlichkeit und Zuneigung weichen zusehends Gewalt und Demütigung.

Wenn sie sich sehen, kippt alles immerfort, fällt alles durcheinander, das Lachen und die Verzweiflung, Begehren, Verachtung, Liebe, Mitleid, Hass, Trauer. Leseprobe

Keine Klischees oder billiges "Feelgood"

Je mehr Katharina und Hans sich selbst und einander geißeln, desto quälender und schmerzhafter wird das Lesen. Aber so wie sie sich nicht voneinander lösen können, will auch die Leserin mehr von dieser sinnlichen und klugen Erzählung, die ohne Klischees und billiges "Feelgood" auskommt. Jenny Erpenbecks "Kairos" ist ein Roman wie ein nicht enden wollender Herbst. Das langsame Sterben in schillernden Farben. Wie gemacht also für diese kürzer werdenden Tage.

Kairos

von Jenny Erpenbeck
Seitenzahl:
384 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Penguin
Veröffentlichungsdatum:
30. August 2021
Bestellnummer:
978-3-328-60085-5
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 01.09.2021 | 12:40 Uhr

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Romane

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